Wann stehen die Tempel Israels vollendet da?

יהי רצון שתשרה שכינה במעשה ידיכם!

»Möge es der Wille Gottes sein, daß die Schechinah ruhe auf dem Werke eurer Hände!«

Wann stehen die Tempel in Israel vollendet da? — Wann? Diese Frage scheint wol leicht zu beantworten, Wenn sowol der äußere Bau, als auch die innere Ausschmückung beendet is; wenn noch überdies die Thorarollen in der heiligen Lade ruhen; wenn die beständige Lampe brennt, und die Kanzel an ihrer Stelle steht: — dann ist der Tempel vollendet. Die Gemeinde jubelt, daß sie das heilige Werk vollführt hat unter Gottes Beistand und Segen, sie feiert die Einweihung des neuerbauten-Gotteshauses mit Predigt und Gesang und — Alles is fertig.
Fertig wol — doch nicht vollendet! Dazu fehlt noch Eines.
Siehe, hier in unsrer Sidra wird auch erzählt:ותכל ‏ כל עבדת משכן אהל מועד — Durch die vereinte Kraft der Meister und Künstler stand die ganze Stiftshütte nun fertig da, mit ihren Brettern und Säulen, ihren Teppichen und Vorhängen, mit Bundeslade, Tisch, Leuchter und Altären, den Priestergewändern und sonstigen heiligen Geräthen; kurz Alles, was dazu gehörte, war fertig — und doch fehlte noch Eines. Moses breitete darum segnend seine Hand aus und sprach: ותכל ‏ כל עבדת משכן אהל מועד
Das heißt: Jetzt fehlet noch Eines, um diesem Heiligthume die Krone aufzusetzen und dieses fertige Werk zu — vollenden: »Die Schechina, die Weihe Gottes, möge ruhen auf demselben!«
Nun unsre Tempel der Neuzeit auch so! Sie mögen fertig dastehen von Außen und von Innen, gebaut nach allen Regeln der Architektonik, in gothischem, oder in maurisch byzantinischem Style, und ausgeshmückt mit aller Pracht und Glorie, mit aller Kunst und Schönheitsfülle — vollendet sind sie nicht eher, als bis die Schechinah darin ruht, das ist die Weihe und die Herrlichkeit Gottes. Aber wodurch fommt denn diese in unsre Tempel hinein? Nun die Baumeister und die Bildhauer, die Maler und die Tapezierer, die bringen sie nicht hinein, nicht einmal die Prediger und Sänger geben dem Tempel die Weihe, sondern nur die Gemeinde bringt sie mit ‏sich‎ hinein; die Schechina zieht erst mit den andächtigen Betern in den Tempeln Gottes ein.
In der That, wahrhaft schön und erhebend wird ein Gottestempel erst dann, wenn er voll und dichtgedrängt von Betern ist — wenn Männer, Frauen, Greise, Kinder alle seine Räume füllen, die Alle eintönig und einstimmig ihre Gebete, wie säuselnde Weihrauchwolken, zum Throne Gottes ausfsteigen lassen, die Alle ihren Dank an seinen Altären niederlegen in Tagen der Freude, ihren Gram dort ausschütten in Stunden der Betrübniß; bald den Gesang von ihren Lippen, bald die Thräne aus ihrem Auge fließen lassen. — Wenn dann früh und Abend das »Höre Israel« aus der Tiefe aller Herzen strömt, oder das dreimalige »Heilig« auf den Fittigen innig heiliger Begeisterung in die Höhe steigt, — dann ja, dann ruhet die Schechinah auf dem Tempel; wie mit Geistertönen flüstert's durch alle seine Räume: פה אשב כו אויתיה — Wahrlich, da gefällt und behagt es mir, da will ich thronen für und für! —
Was die Weihe hineinbringt in die Tempel Gottes? — Die Ehrfurcht, die heilige Scheu, mit der die Gemeinde über seine Schwelle tritt, das bringt die Weihe hinein; die richtigen Begriffe, die die‎ Ge‎meinde von ihrem Gotteshause hat, die machen die Schechinah in seiner Mitte herrschen.
Unsre Weisen sagen, das israelitische Heiligthum habe von jeher drei Namen geführt: Abraham habe dasselbe einen Berg, Isaak ein Feld und Jakob ein Haus genannt. (Pesach. S. 88a אברהם קראו הר ;יצחק קראו שדה ;יעקב קראו בית)
Das israelitische Heiligthum ein Berg, ein Feld, ein Haus! Jeder dieser drei Namen hat seine sinnige Bedeutung.
Das Gotteshaus ein Berg. Nicht wahr, wenn Jemand auf einem hohen Berge steht, dann steht er erhaben über die staubige, dunstige Atmosphäre der Thäler und Ebenen; seine Lungenflügel dehnen sich, er hat reine, kräftige, balsamische Luft um sich. — Ferner, wer auf einem hohen Berge steht, der hat tiefe Stille, feierlich ernste Ruhe rings um sich her; denn das Treiben und Lärmen der Städte und Dörfer dringt nicht bis zu ihm hinauf. — Noch ferner, wer auf einem hohen Berge steht, der steht dem Himmel viel näher, und fühlt sich auch dem Gott im Himmel viel näher und verwandter, als da drunten in der Tiefe. — Nun solch eine Anhöhe, solch eine Hochstätte soll auch der Tempel Gottes für uns sein, wo reinere, kräftigere Luft herrscht, in der das kranke und gebeugte Herz erstarkt; wo der Mensch seinem Gott und Schöpfer sich näher fühlt, und den Staub und den Dunst, das Treiben und Toben der Welt weit hinter sich läßt. בות הכנסת צריך שיהיה גבוה מכל בתי העור —
Das Gotteshaus ist aber auch ein Feld. Auf dem Felde nämlich werden Saaten ausgestreut, die dann reiche Früchte tragen, an denen das Auge und das Herz seine Freude hat. — Die Thränen des Schweißes, die der Landmann dort vergießt, die wandeln sich in Perlen des Segens und der Fruchtbarkeit um. — Ach, welch ein weites, reiches, edles Feld is nun erst das Gotteshaus! Wird da nicht Glaube in das Herz, Licht in den Geist gepflanzt? ‏שתולים בבית יי בחצרות אלהינו יפריחו‎ — Und was im Hause Gottes gepflanzt wird, das soll in seinem Vorhofe, im Leben draußen, segenreiche Blüthen und Früchte tragen! —
Aber, o mein Leser, Vater Jacob, der Patriarch mit dem liebevollen Herzen, wußte doch den schönsten Namen für den Tempel Gottes: der Tempel des Herrn ein Haus! — Nicht wahr, in jedem Hause wohnt eine Familie beisammen, das ist, ein Vater umgeben von seinen Kindern, seinen Söhnen und Töchtern. Und der Tempel ist ebenfalls solch ein Haus, wo ein treuer, gütiger Vater wohnt in der Mitte seiner Kinder; und diese Kinder, weil allesammt Sprößlinge dieses einen gütigen Vaters, mitsammen lauter Brüder und Schwestern! — Wir Menschen sind wol überall, auch außer dem Gotteshause, lauter Brüder; denn wir haben Alle an Einem Mutterherzen geruht, diese Mutter heißt: Natur; uns Alle hat Ein Vater gezeugt, dieser Vater heißt: Gott; wir sind Alle in dem Einen Hause großgewachsen, dieses Haus heißt: die Erde; wir Alle haben die Eine Heimath, diese heißt: der Himmel, — Allein im Leben draußen bauen sich lauter Scheidewände auf zwischen Mensch und Mensch, zwischen Herz und Herz — doch der Tempel ist das Haus, das große Familienhaus, das בות הכנסת die Sammlungs- und die Einigungsstätte! Da droben thront für Alle Ein Vater, und die da drunten vor seinem Angesichte versammelt stehen, sind allesammt seine Kinder. —
In der That, wo eine Gemeinde mit solchen Gedanken, mit solchen Begriffen von ihrem Gottestempel, über die Schwelle ihres Tempels tritt — da bringt sie die Weihe, da bringt sie die Schechinah mit sich‎ hinein. Solche Gedanken und Begriffe machen den Tempel erst zum Gottestempel; und wenn er durch die vereinte Kraft der Meister und der Künstler, von Außen und von Innen fertig dasteht, dur solche Gedanken und Begriffe, die die Gemeinde mit sich hineinbringt, erhält er erst die Vollendung! —