Kapitel 1

Die Quellen des Midrasch zum Hohenliede.

Nachdem das Hohelied als eine Allegorie zwischen Gott und der Gemeinde Israel aufgefasst und in Folge dessen dem Kanon einverleibt worden war, fing man an, es wie die übrigen Hagiographen in öffentlichen Vorträgen auszulegen. Sowohl in den beiden Talmuden, wie im Midr. Bereschit r., Wajikra r., der Pesikta des Rab Kahana, in Sifre, Sifra und in der Mechilta sind noch viele Bruchstücke solcher alter Vorträge über Texte des Hohenliedes erhalten. Salfeld (a. a. O. S. 5ff.) verzeichnet alle Erklärungen und Deutungen über diejenigen Verse des Hagiographon, welche in Sifre, Sifra und der Mechilta vorkommen. Eine grosse Anzahl solcher Erklärungen liegen der Komposition des Midrasch zum Hohenliede zweifelsohne zu Grunde. Der Autor oder Redakteur unseres Midrasch stellte dieselben zum Zwecke einer fortlaufenden Auslegung aber nicht nur zusammen, sondern machte auch, um das Ferne nahe zu bringen und zu vereinen, hier und da Umänderungen und Einschaltungen. Es ist nicht alles nur Exzerpt aus Talmud und alten Midraschwerken, was wir im Midrasch zum Hohenliede lesen, sondern wir merken noch zuweilen die Spuren der Tätigkeit der schaffenden Haggada, selbst.
Dass es mehrere Midraschim zum Hohenliede gegeben habe, wie Dr. Jellinek in einer Nota über das Verhältnis von Schir ha-schirim rabba zur Pesikta des Rab Kahana an Dr. I. Theodor ausführt, nämlich einen Midrasch über den Auszug aus Ägypten, einen über die Gesetzgebung, einen im Sinne des Stiftszeltes und einen auf den Tempel und aus diesen allen ein einziger und zwar der uns jetzt vorliegende komponiert und im Laufe der Jahrhunderte durch verschiedene Zusätze vermehrt worden sei, will uns nicht einleuchten. Wir können schon aus dem Grunde der Ansicht dieses Gelehrten auf dem Gebiete der Midraschliteratur nicht beitreten, weil die Auslegungen des ganzen Textes auf die erwähnten geschichtlichen Vorgänge und Tatsachen in unserem Midrasch nicht durchgeführt sind, sondern nur bei einzelnen Versen hervortreten. Und selbst wenn viele Bestandteile jener Deutungen sollten verloren gegangen sein, so stellen   sich   der   Hypothese   Jellineks   immer   noch   so   viele   andere Schwierigkeiten entgegen, dass sie sich schlechterdings nicht aufrechterhalten lässt. Um vieles einfacher und natürlicher gestaltet sich die Sache, wenn wir annehmen, der Redakteur habe die zahlreichen in alten Quellen vorhandenen Auslegungen über einzelne Verse des Hohenliedes zum Zwecke einer zusammenhängenden Auslegung verwendet und  mit Eigenem  bereichert.
So urteilt auch Dr. Theodor (s. Grätz, Monatsschrift a. a. O. S. 341 f.). „Der Autor des Cant. r. wollte“, so lauten seine Worte, „einen fortlaufenden Midrasch zum Hohenliede zusammenstellen, und er nahm aus Quellen, die ihm zugänglich waren, oder mit denen er vertraut war, die Auslegungen für die einzelnen Verse, wo er diese Verse in irgend welcher Beziehung und in irgend welchem Zusammenhange angeführt und gedeutet auffand; daher die äußere deutliche Verschiedenheit in dem Umfange und dem Charakter der einzelnen Auslegungen; bestimmt erkennbare Proömien, ganze Predigten mit vielen Variationen über Texte aus mehreren Versen, und kurze, abgerissene Wort- und Satzerklärungen; daher auch die Erscheinung, die in späteren Midraschim noch vielmehr hervortritt, dass zu gleichen oder ähnlichen Versteilen dieselben Auslegungen zwei- oder dreimal sich wiederholen.“ Auf solche Wiederholungen stoßen wir öfters im Midrasch zum Hohenliede. So kehren die Erörterungen zu 1, 13 in 3, 6, die zu 1, 16 in 4, 1a und mit passenden Abänderungen in 7, 7 und die zu 3, 6 in 8, 5 wieder. In 4, 13, 5, 7 und 8, 5 begegnet uns eine Boraitha mit der daran geknüpften Erklärung (wohl aus dem ersten Proöm des R. Jochanan über Jes. c. 22 in Echa r.). Die Auslegung des R. Jizchak zu 1, 16 lesen wir auch in 4,  1b.
Als besonders nachweisbare Quellen für den Midrasch zum Hohenliede verzeichnet schon Zunz (s. Die gottesdienstl. Vorträge der Juden S. 263) mit kritischem Seherblick nächst dem Bereschit rabba, dem jerusalemischen und babylonischen Talmud vornämlich Wajikra rabba und die Pesikta, so dass über diese Frage die Akten so gut als wie geschlossen betrachtet werden können. Nur die Entlehnungen aus dem babylonischen Talmud dürften vielleicht zu beanstanden sein, da sie sehr unbedeutend sind und sich nur auf einzelne Aussprüche und größere oder geringere Anklänge beziehen, welche sich aber auch in anderen Quellen vorfinden, und der Redakteur sie ebenso gut aus diesen exzerpiert haben kann. Theodor gibt in seiner vortrefflichen Abhandlung: Zur Komposition der agadischen Homilien (s. a. a. O. S. 346 f.) eine dankenswerte Zusammenstellung der betreffenden Stellen, welche mit dem babylonischen Talmud entweder übereinstimmen oder an ihn anklingen. Aus alledem geht hervor, dass die Annahme, der Redakteur habe aus dem babylonischen Talmud wenig oder nichts geschöpft, große Berechtigung hat. Sehr richtig bemerkt Theodor (a. a. O. S. 343): „Im Jad Joseph wird zwar sehr oft auf den babylonischen Talmud verwiesen, aber die betreffenden Stellen bieten alle nichts mehr als geringere oder größere Anklänge, und wenn auch mehrere Deutungen im Cant. r. und im babylonischen Talmud sachlich übereinstimmen, so erklärt es der alte Ursprung so vieler Auslegungen, dass im babylonischen Talmud sich die Gedanken finden, welche den viel späteren und sehr verschiedenen, doch sicherlich palästinischen Quellen entstammenden Ausführungen im Cant. r. zu Grunde liegen. Sollte auch einzelnes auf den babylonischen Talmud zurückzuführen sein, so ist es gewiss nicht unmittelbar aus demselben in Cant. r. geflossen.“
Umso schlagender lassen sich dagegen zahlreiche Entlehnungen aus dem jerusalemischen Talmud, aus Midr. Bereschit r., Wajikra r. und der Pesikta des Rab Kahana nachweisen, ja ihr Umfang beträgt mehr als den vierten Teil des Umfanges unseres Midrasch, wie er in den Textausgaben uns vorliegt. Welche Stücke aus den oben bezeichneten Quellen nun speziell in den Midrasch zum Hohenliede übergegangen sind, hat Theodor gleichfalls in seiner Abhandlung: (a. a. O. S. 344 ff.) schlagend nachgewiesen. Wir lassen auch diese von ihm  aufgeführten  Entlehnungen in  Kürze hier  folgen:

1) Aus dem jerusalemischen Talmud:

zu 1, 1 s. j. Schabb. I, 3c:,
zu 1, 2 s. j.  Aboda .sara II,  41c,
zu 1, 3. (7,  1) s. j. Meg. II, 73b; j. Moed. katan III. 83b,
zu 1,  6 s. j.  Succa V, 55c; j. Aboda sara 1, 39c; (mit Einschaltungen vergl.
Sifre Deut.  Piska 52); j.  Erubin   III,  21c,
zu 1, 9 s. j. Sanh. 1,  18a,
zu 1, 11 s. j. Schek. VI, 49d,
zu 1, 12 s. j. Pesach. IV, 30d,
zu 3, 6 s. j. Joma III, 41a; j. Schek. V, 48d,
zu 3, 7. 8 s. j. Schek. IV, 48a,
zu 3, 10 S. j.  Joma IV,  4 d,
zu 3, 11 s. j. Rosch haschana II, 58a,
zu 4, 1b – 4 s. das. IV, 59c;  j. Joma VII, 44b  (vergl. Midr.  Wajikra r. Par.
10); j. Berach. IV, 8bc,

zu 4, 8 s. j. Succa IV, 54c; j. Chall. IV, 60a,
zu 4, 13 s. j. Schek. IV, 50 a,
zu 4,  16 s. j. Meg. II, 72b vergl. Midr. Beresch. r. Par. 22 und 34 und
Wajikra r. Par. 9,
zu 5, 11 s. j. Sanh. II, 20c;  j.   Schek.  VI, 49d  (vergl.  Midr.  Wajikra r.
Par. 19),
zu 5, 14 s. j. Schek. VI, 49d,
zu 5, 16 s. j. Pea I,  16b,
zu 6, 9 s. j. Berach. I, 2c,
zu 6, 10 s. das.,
zu 7, 2 s. j. Pea III, 17d,
zu 7, 5 s. j. Berach. IX,  13a,
zu 7, 11 s. das. II, 4b,
zu 8, 9 s. j. Taan. II, 65a,
zu 8, 14 s. das. I, 63d.

2) Aus dem Midrasch Bereschit r.:

zu 1, 1 im ersten Proöm. s. Ber. r. Par. 87,
zu 1, 3 s. Ber. r. Par. 39,
zu 1, 14b s. Ber. r. Par. 44,
zu 1, 15 (und 4,  1) aus Ber. r. Par. 33  (vergl. Wajikra r. Par. 31),
zu 1, 17 s. Ber. r. Par. 68,
zu 2, 14 s. Ber. r.  Par.  45,
zu 2, 16 s. Ber. r. Par. 32 u. 34,
zu 3, 6 mit vielfachen Umstellungen aus Ber. r. Par. 77,
zu 4, 6 s. Ber. r. Par. 47,
zu 4, 11 s. Ber. r. Par. 65 vergl. Par. 67,
zu 7, 5 s. Ber. r. Par. 78,
zu 7, 11 s. Ber. r. Par. 20,
zu 7, 14 s. Ber. r. Par. 72,
zu 8, 8-10 s. Ber. r. Par. 39,
zu 8, 11 s. wahrscheinlich Ber. r. Par. 85 Ende.

3) Sehr wichtige und umfangreiche Entlehnungen sind aus der Pesikta geflossen und zwar

zu 1, 4 vergl. Piska 22 (Buber S.  147a),
zu 2, 3 und 2, 5 vergl. Piska  12 (B. S. 103b und 100b) und Piska 28 (B. S.
179a),
zu 2, 7 vergl. Piska 10 (B. S. 87a),
zu 2, 8 ff. vergl. Piska 5 (B. S. 47a ff.),
zu 3, 1 vergl. Piska 1 (B. S. 2b-5b),
zu 3, 4 vergl. Piska 2 (B. S.  14a),
zu 4, 11 vergl. Piska 10 (B. S. 92a),
zu 4, 12 vergl. Piska 10 (B. S. 82a – 84a),
zu 5, 1 vergl. Piska  1 (B. S.  1a f.),
zu 5, 14 vergl. Piska 18 (B. S.  135b) und Piska 10 (B. S. 90b),
zu 5, 16 vergl. Piska 9 (B. S. 76b),
zu 6, 3 vergl. Piska 1 (B. S. 7a-10a),
zu 7, 2 vergl. Piska 30 (B. S.  193a),
zu 7, 5 vergl. Piska 20 Schluss (B. S.  143a f.),
zu 8, 1 vergl. wohl Piska 16 (B. S. 126a),
zu 8, 7 vergl. Piska 28 (B. S.  178b).

4) In Bezug auf die Entlehnungen aus Midrasch Wajikra r. ist zu vergleichen

1, 7. 8 mit Wajikra r. Par. 11,
1, 10 mit Wajikra r. Par. 16,
2, 2 mit Wajikra r. Par. 23,
2, 3 mit Wajikra r. Par. 1,
2, 14 mit Wajikra r. Par. 33,
4, 1 – 4 mit Wajikra r. Par. 32,
5, 1 mit Wajikra r. Par. 8,
5, 11 (erstes Proöm) mit Wajikra r. Par.  19,
5, 15 mit Wajikra 25 Ende,
7, 5 mit Wajikra r. Par 1,
7, 16 die Schlussformel der Proömien mit Wajikra r. Par. 31,
8, 6 mit Wajikra r. Par. 18 und 10.

Was endlich das Verhältnis des Midrasch zum Hohenliede zu anderen alten Midraschwerken, wie Seder Olam, Sifre, Sifra und Mechilta und Tanchuma (Jelamdenu), sowie zur Mischna und Tosephta anlangt, so hat auch dieses Theodor in seiner Abhandlung (a. a. O. S. 347, Nota 11-16) erörtert, weshalb wir uns einfach mit diesem Hinweise begnügen.
Hinsichtlich der Zeit der Redaction des Midrasch zum Hohenliede ist mit Zunz (a. a. O. S. 263 f.) zu bemerken, dass derselbe höchst wahrscheinlich zu den jüngeren Haggadas gehört. Nach Salfeld (a. a. O. S. 15) erfolgte die Redaction erst in der ersten Hälfte des neunten Jahrhunderts.
Wenn die gegenwärtige Gestalt des Midrasch zum Hohenliede wesentliche Abweichungen von einer Münchner Handschrift aufzeigt (nach Chodowsky, Observaliones crilicae in Schir ha-Schirim fehlen beispielsweise in derselben die Stücke zu 3, 6 und 4, 1-5), so fallen diese wahrscheinlich der Nachlässigkeit des Abschreibers zur Last. Nach verschiedenen Merkmalen zu urteilen, scheint überhaupt der Münchner  Handschrift   kein  großer   kritischer  Werth   beigemessen werden zu  dürfen.
Betreffs der vielfachen Textcorruptionen und der Sinndeutung dunkler Stellen leistet sowohl das Neuhebräische und Chaldäische Wörterbuch über die Talmudim und Midraschim von I. Levy, wie der Aruch von A. Kohut auch für den Midrasch zum Hohenliede höchst Beachtenswertes. Unsre Übersetzung ist durch diese Werke wesentlich gefördert worden, weshalb wir beiden Herrn Verfassern hiermit unsern besten Dank aussprechen.