90. - 127. Abschnitt - Das Wesentliche über das Gebet und die Zeit desselben

(Unter dem eigentlichen Gebet versteht man die 18 Hauptgebete, die jeder Israelite dreimal täglich leise für sich in der Synagoge beten muss) Die Zeit des Morgengebetes beginnt, so wie die Sonne anfängt, hervorzukommen; hat man früher gebetet,  schon bei der Hervorbrechung der Morgenröte (fünf Viertelstunden vor Aufgang der Sonne), so gilt es auch; bis zum Verlauf der vierten Stunde des Tages kann man noch immer das Gebet verrichten; so hat man nicht den ganzen Lohn von G’tt dafür. Nach der Mittagsstunde aber darf man das Morgengebet nicht mehr verrichten. Sobald die Zeit des Gebetes gekommen ist, darf man den Nächsten nicht mit dem Worte Schalom (Friede sei mit dir) grüßen, weil dies Wort einer der Namen G’ttes ist, sondern man sagt statt dessen: guten Morgen, oder der Morgen des Herrn möge gut sein, u.s.w.
 Man darf nicht beten an einem erhöhten Orte, nicht im Bette oder auf einem Stuhl oder einer Bank stehend; jedoch ist dies Handwerksleuten erlaubt. Man darf das Gebet nicht in einer Ruine verrichten, erstens des Verdachtes wegen, man hätte daselbst eine Zusammenkunft mit einer Frau verabredet, zweitens wegen Gefahr, das eingefallene Gebäude möchten noch mehr einfallen und ihn beschädigen, und drittens wegen des Aufenthaltes der bösen Geister, die gewöhnlich in einer Ruine sind.
 Man soll sich bestreben, das Gebet gemeinschaftlich mit der Gemeinde in der Synagoge zu verrichten und nicht außerhalb, besonders nicht hinter derselben beten, weil dieses Verachten anzeigen würde; auch soll man das Gebet nicht auf offenem Felde verrichten (man müsste denn auf Reisen sein), denn in einem umgebenen Platz überfällt Einem mehr die Furcht vor dem König (G’tt) und das Herz wird zerbrochen (untertänig).
 Wenn Jemand die Synagoge in seiner Vaterstadt nicht besucht, der wird ein böser Nachbar genannt und zieht sich (zur Strafe von G’tt) für sich und seine Nachkommen Verbannung zu. Man soll laufen zur Synagoge wie zu jeder Ausführung eines Gebotes, sogar am Shabbath, wo doch sonst zu laufen verboten ist; aber beim Herausgehen aus derselben gehe man langsam, damit es nicht aussähe, als freue man sich, ihrer los zu sein. Man soll sich bestreben, früh in die Synagoge zu gehen, um möglichst einer von den zehn ersten zu sein, welche dahin gehen u.s.w. Nicht an der Seite seines Lehrers, noch vor oder hinter demselben soll man beten, aus Ehrfurcht; doch kann der erste Schüler, der als Freund und einigermaßen als Kollege des Lehrers zu betrachten ist, hinter demselben, nicht vor ihm, sein Gebet verrichten.
 So wie beim Lesen des Schma, so darf auch beim Beten in der Nähe des Betenden kein Kot, Urin oder ein übler Geruch, oder ein Toter, oder Jemand mit entblößter Scham sich befinden u.s.w. Man muss sich gürten, bevor man betet, damit das Herz die Scham nicht sehe, auch muss man den Kopf bedecken während des Betens. Legt ein Anderer aber seine Hand auf den Kopf des Betenden, so gilt es zur Not.
 Sobald man merkt, dass man ein Bedürfnis verrichten muss, so darf man nicht beten, tut man es doch, so ist das Gebet ein Gräuel und man muss noch einmal beten; kann man sich aber des Bedürfnisses so lange enthalten, als man eine Parßah (ein Meilenmaß) gehen kann, so gilt das Beten allenfalls, wenn es einmal geschehen ist u.s.w.
 Vor dem Gebete muss man sich waschen, wenn dies nicht schon vor dem Lesen des Schma geschehen ist u.s.w. Es ist gut, Almosen zu geben vor dem Beten.
Man soll vor dem Beten erst eine Zeit lang (eine Stunde für die ganz Frommen, für die vom Volke weniger) sich vorbereiten zur gehörigen Andacht, und ebenso lange soll man nach dem Gebet verweilen, damit das Beten nicht als eine Last betrachtet werde, von welcher man je eher je lieber befreit werden will. Mit Furcht und Untertänigkeit soll man sich zum Beten stellen, nicht mit Gelächter, Leichtfertigkeit, unnützen Reden, auch nicht mit Zorn, sondern mit Freudigkeit u.s.w.
 Mit dem Gesicht nach Osten gekehrt muss man beten, weil dort das gelobte Land, Jerusalem und der Tempel gelegen sind (ist) u.s.w. Wer diese Richtung nicht finden kann, der soll seine Herzensandacht beim Beten zu seinem himmlischen Vater wenden. Reitet man oder fährt man in einem Schiffe oder geht man zu Fuße, so kann man gehend, reitend oder fahrend beten, wenn es nicht ausgeht, dass man so lange stillstehen kann u.s.w. Man muss beim Beten die Füße dicht zusammenhalten, als wenn man nur einen Fuß hätte, wie die Engel von denen es heißt: ihre Füße sind ein gerader Fuß. Ezch. 1,7. Auch muss man beim Beten den Kopf etwas bücken, als wenn man im Tempel wäre, und im Herzen soll man die Andacht zum Himmel wenden u.s.w. Während man betet, soll man weder die Tephilin, ein Buch, eine volle Schüssel, ein Messer, Geld oder ein Brot anfassen, weil alles dieses die Andacht stört; auch soll man nicht gähnen oder sonst den Mund zu weit öffnen, auch nicht ausspeien, oder man müsste den Speichel im Kleide verbergen oder denselben hinter sich werfen. Sticht einem eine Laus, so muss man dieselbe mit dem Kleide, nicht mit der Hand, anfassen und sie wegwerfen u.s.w.
Beim Beten muss man zugleich die Bedeutung der hebräischen Wörter in der gangbaren Sprache sich im Herzen denken, und muss Alles, was die Andacht stört, von sich entfernen, als wenn die Herrlichkeit G’ttes zugegen wäre. Wenn Jemand zu einem menschlichen König spricht, so ordnet er ja seine Worte auf das Allermöglichste, umso mehr, wenn man zu dem König aller Könige (der heilige, gelobt sei er) spricht, der alle Gedanken der Menschen weiß. die ganz Frommen bereiten sich daher zur Andacht so vor, dass sie das Körperliche an sich vergessen und in prophetisches Entzücken geraten.
Überkommen Jemanden beim Beten fremde Gedanken, welche die Andacht stören, so muss er so lange mit dem Beten innehalten. Man darf seine kleinen Kinder in der Synagoge nicht küssen, denn alle Liebe zu Menschen ist nichts gegen die Liebe zu G’tt.
Das Gebet vertritt die Stelle der ehemaligen Opfer zur Zeit des Tempels, daher muss es mit Andacht geschehen, wie damals die Opfer gebracht werden mussten u.s.w. (§99) Ein Betrunkener, der nicht gehörig mit einem menschlichen König sprechen kann, darf nicht beten; tut er es doch, so ist sein Gebet ein Gräuel und er muss, wenn der Wein verflogen ist, noch einmal beten; jedenfalls soll der, welcher ein Viertelmaß starken Wein in einem Zuge trank, doch nicht eher beten, bis der Wein verflogen ist. Dasselbe gilt nach einigen Rabbinern beim Lesen des Schma. Ein wenig Schlaf oder ein Gang (eine Meile weit), den er macht, machen den Wein wieder verfliegen; hat man aber mehr als ein Viertelmaß in einem Zuge ausgeleert, so ist der Schlaf und das Gehen noch schlimmer, aber nicht das Reiten. Ein Jeder muss übrigens wissen, wie viel er vertragen kann;  tst la rksv ]yy,  Wein und (anderes) starkes Getränk sollst Du nicht trinken, 3. B. M.
Das Gebet muss nicht allein im Herzen geschehen, sondern es muss auch mit den Lippen ausgesprochen werden, aber leise; ist es Jemanden nicht möglich, leise zu beten, so kann er auch laut das Gebet verrichten, d.h. zu Hause aber nicht in der Synagoge, damit die Anderen, welche alle leise beten, nicht gestört werden. Am Neujahrs- und am Versöhnungstage können alle das Gebet laut, aber nicht übermäßig laut verrichten. Das Gebet kann in jeder Sprache geschehen, d.h. von der ganzen Gemeinde in der Synagoge. Ein Einzelner zu Hause darf das Gebet nur in der hebräischen Sprache verrichten. Andere Rabbiner wollen, dass dies nur der Fall sei, wenn ein Einzelner für seine Privatsache, z.B. für einen Kranken u.dgl. betet. Das gewöhnliche allgemeine Gebet kann jedoch auch von einem Einzelnen in jeder Sprache geschehen; andere Rabbiner wollen dagegen, dass auch ein Einzelner in allen Fällen das Gebet in jeder Sprache verrichten könne.
Man darf innerhalb vier Ellen weit von einem Betenden nicht sitzen, weder vor ihm noch hinter ihm, und auch nicht an den Seiten desselben u.s.w. Ist Jemand mit seinem Gebet fertig und ein Anderer betet hinter ihm, so darf der Erste die drei Schritte rükwärts (Ist jedes Mal bei Endigung des Gebetes erforderlich)  nicht eher tun, bis der Zweite sein Gebet auch beendigt hat. Wenn Jemand im Beten Blähungen von unten oder von oben überkommen (Wie er sich zu verhalten habe, dies geht wie gewöhnlich ins Weitläufige), oder er niest: Blähungen von unten beim Beten sind ein böses, von oben ein gutes Zeichen.
 Man darf im Gebet nicht innehalten (um etwas anderes zu verrichten), und sogar wenn man von einem König (jüdischen) gegrüßt würde, so darf man doch nicht antworten; ist es aber ein nichtjüdischer König, so muss man sehen, dass man das Gebet abkürze, bevor ihn dieser erreicht, oder vom Wege abweichen und auf einen Seitenweg sich begeben; ist aber keines von beiden möglich, so muss man innehalten, um mit dem König zu sprechen, d.h. wenn Lebensgefahr vorhanden ist, nicht aber wegen Geldverlust.  Ist Jemand unterwegs im Gehen betend und es kommt ein Vieh oder ein Lastwagen auf ihn zu, so muss er auf die Seite weichen und fortbeten; selbst wenn sich eine Schlange um seine Ferse gewickelt hätte, er muss fortbeten, kann aber von der Stätte, wo er sich befindet, weg zu einem andern Ort gehen, damit die Schlange durch das Gehen abfällt; ist es aber ein Skorpion, so kann er innehalten mit Beten, um dies erst los zu werden. Ebenso wenn er sieht, dass die Schlange anfängt, zornig zu werden und im Begriff ist, zu schädigen u.s.w.
 Alle Fälle, welche vom Schma-Lesen befreien (siehe oben), befreien auch vom Gebete, mit Ausnahme derer, welche einen Toten begleiten, aber nicht zu den Leichenträgern gehören; obschon diese das Schma lesen müssen, so sind sie doch vom Beten befreit. Frauen aber, ebenso Sklaven, die beide vom Schma-Lesen befreit sind, müssen doch beten, weil Beten ein Gebot ist das an keine bestimmte Zeit wie das Schma-Lesen gebunden ist.
 Zweifelt Jemand, ob er schon gebetet hat oder nicht, so muss er noch einmal beten. Dreimal des Tages muss man beten, des Morgens, kurz nach Sonnenuntergang und des Nachts. Will Jemand außerdem noch ein besonderes freiwilliges Gebet verrichten, so steht es ihm frei; er muss aber Acht geben, dass er die Andacht nicht verliert, sonst ist es besser, er betet nicht. Hat Jemand aus Irrtum oder aus Zwang das Morgengebet nicht verrichtet, so muss er des Abends zweimal beten, das erste Mal für das zweite Gebet, das jetzt an der Zeit ist, und das zweite Mal für das Morgengebet; hat er’s verkehrt gemacht, so gilt’s nicht, und er muss noch einmal das vergessene Gebet beten; ebenso ist’s, wenn er das Abend- oder das Nachtgebet vergessen u.s.w.  Man soll sich bestreben, in die Synagoge so früh zu kommen, dass man das Gebet gemeinschaftlich mit der ganzen Gemeinde verrichten kann; wenn Jemand zu spät gekommen ist u.s.w. In der Not kann man auch statt der 18 Gebete nur ein kurzes Gebet verrichten, z.B. man ist auf Reisen oder man ist sonst beschäftigt und man befürchtet, man Erde unterbrochen, wenn man anfängt zu beten, oder kann nicht mit der gehörigen Andacht beten, dann braucht man nur die drei ersten der 18 Gebete und das Habinenu und nach diesem die drei letzten Gebete der 18 zu sagen, aber stehend, das genügt. Arbeitsleute für die bloße Kost müssen das Gebet vollständig verrichten; erhalten sie aber Tagelohn, so brauchen sie nur kurz zu beten. Gehet Jemand auf Reisen und passiert Wege, wo wilde Tiere oder Räuber sich aufhalten, so spricht er nur ein sehr kurzes Gebet, z.B. : Die Bedürfnisse deines Volkes, o G’tt, sind viel u.s.w Bevor man abreist, sage man den Segenspruch: Es sei dir wohlgefällig u.s.w. Auch wenn die Gelehrten in die Lehrschule gehen, wo die Gesetze besprochen werden, müssen sie einen Segenspruch sagen und beten, dass sie sich nicht irren mögen beim Urteilen über ein Gesetz; beim Weggehen sollen sie G’tt danken, dass ihnen der Gelehrtenstand zuteil wurde u.s.w.
Man muss unmittelbar nach der “Erlösung” das Gebet folgen lassen. (Der zweite Segenspruch nach dem Schma und vor dem Gebete, endigt nämlich mit dem Schluss: Gelobt u.s.w., der du Israel erlöset hast – aus Ägypten – darauf muss gleich das Gebet folgen und man darf zwischen Beiden nicht innehalten, mit Ausnahme, dass man vor dem Gebete den Spruch sagt: Herr, öffne meine Lippen zum Gebet, dass mein Mund dein Lob verkünde u.s.w.)
 Nun wird abgehandelt über die Verbeugungen beim Gebet, bei welchen von den 18 Gebeten man sich bücken muss u.s.w. Man muss sich dergestalt bücken, dass alle 18 (das Gebet besteht bekanntlich in 18 Abteilungen) Gelenke des Rückgrates erschüttert werden. Bücken allein, so dass der Kopf gerade bleibt, hilft nicht, sondern dieser muss auch gebückt werden; das Bücken muss geschwind auf einmal, das Wiederaufrichten aber langsam geschehen u.s.w. Betet Jemand und es kommt ihm ein Nichtjude in den Weg, mit einem Kreuz oder ähnlichen in der Hand, und er ist gerade an einer Stelle, wo gebückt werden muss, so soll er sich doch nicht bücken.
 Man soll im gesetzlichen Gebete G’tt nicht mehr Eigenschaften zulegen, als von den Weisen vorgeschrieben ist, nämlich: der Mächtige, der Große, der Starke und der Furchtbare; im Privatgebete aber ist solches erlaubt. Im zweiten Gebete der 18 muss man in den Winter-Monaten vom Laubhütten- bis Pessachfest die Worte einschalten: der du den Wind wehen lässt und den Regen niederfallen u.s.w. Das vierte Gebet, über die Gabe des Verstandes und der Vernunft des Menschen, die G’tt gegeben, ist deshalb verordnet, weil dies der einzige Vorzug des Menschen vor dem Vieh ist, das keine Vernunft hat u.s.w. Beim 17. Gebet
Lobspruch des Dankes oder Modim muss man sich zweimal bücken im Anfang und am Ende derselben.
 Es ist jedem Israeliten erlaubt, in der Mitte des Gebetes, nicht in den drei ersten und in den drei letzten Gebeten, seine Privat-Bedürfnisse von G’tt zu erbitten, z.B. in dem achten Gebete kann er auch G’tt um die Genesung eines ihm nahe stehenden Kranken bitten u.s.w. Beim Schluss des 18. Gebetes muss man sich wieder bücken und drei Schritte – nicht mehr – rückwärts gehen u.s.w.
 Es ist schon oben erwähnt, dass der Vorsänger, nachdem die Gemeinde das ganze Gebet leise für sich beendigt hat, dasselbe wieder laut beten müsse und nach jedem Gebet muss die Gemeinde mit den Worten: Gelobt sei er, und gelobt sei sein Name, und Amen einfallen.
 Das Amen darf nicht zu kurz und nicht zu lang ausgesprochen werden u.s.w.
 Bei der Keduschah (die Heiligung G’ttes), das dritte Gebet, wenn der Vorsänger mit den Worten anfängt: Wir wollen dich heiligen und verherrlichen, wie in der geheimnisvollen Sprache der heiligen Seraphim, lauten in dem zweiten Shabbath Morgen- (Mussaf-) Gebet, diese Worte anders als täglich, nämlich: Lasset uns seinen Namen heiligen in der Welt, wie man denselben heiliget in dem hohen Himmel, wie es geschrieben ist durch deinen Propheten Jes. 6,3. Und einer – ein Engel – rief zum anderen und sprach: Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth, die ganze Erde ist seiner Ehre voll. Bis zu den Worten: Heilig u.s.w. muss die Gemeinde schweigen und darf die Worte des Vorsängers nicht mitspreche, sondern soll bloß andächtig sein; dann aber fallen alle mit den Worten: Heilig u.s.w. ein.
 Bei diesen Worten muss jeder die Füße fest zusammenhalten, die Augen zum Himmel erheben, mit dem ganzen Körper sich bewegen und mit den Füßen etwas in die Höhe springen, auch darf man in der Mitte dieses Gebetes nicht weggehen. Hat sich der Vorsänger geirrt und hat er eines von den 18 Gebeten ausgelassen und findet er sich wieder zurecht, da man ihn daran erinnerte, so lässt man ihn weiter fortfahren, hat er aber das elfte Gebet ausgelassen, in welchem der Fluch der Minin (Ketzer) enthalten ist, so muss er sofort abtreten, denn er ist dadurch in den Verdacht geraten, selbst ein Ketzer zu sein; hat er aber das gedachte Gebet schon angefangen, und hat daselbst bloß irrtümlich unrichtig gesagt, so lässt man ihn fortfahren u.s.w.