Zur Geschichte des biblischs talmudischen Eherechts

Zur Geschichte des biblischs talmudischen Eherechts.

Von Rabb. Dr. Max Eschelbacher.

I.

Der Ursprung der großen menschlichen Institutionen liegt im Dunkel. Wie der Staat, das Eigentum, die Ehe entstanden sind, vermag Niemand mit Bestimmtheit zu sagen. Ihre Anfänge sind für uns ein Rätsel. Freilich kein hoffnungsloses Problem. Denn mancher Weg kann zu den verlorenen Quellen führen. Die verschollenen alten Zustände leben noch in den Denkmälern einer späteren Epoche in mancherlei Spuren fort, diese können gedeutet werden und geben dann ein Zeugnis für frühere Zustände.
Der Wissenschaft von der Vorgeschichte des Rechtes und der Sitte gehört auch die Frage nach dem U r s p r u n g der Ehe an. Wenn es gut geht, können auch hier aus einem späteren Abschnitt der Entwicklung frühere Stufen erschlossen werden. Freilich muß dabei eine schwere Forderung an die Forschung gestellt werden. Sie muß sich von Vorurteilen frei halten und sich mit der Erkenntnis abfinden, daß in anderen Zeiten andere Zustände und andere Auffassungen herrschten, als in der Gegenwart. Andere Zeiten, andere Sitten, und eine Normalform, eine absolute Form besteht auch für die Ehe nicht. Deshalb können die verschiedenen, wechselnden Sitten und Rechte dennoch eine Folge bilden, deren Glieder in einem gesetzmäßigen Zusammenhang miteinander stehen und sich aus einander entwickelt haben.
Das Fundament der Ehe ist tief in die Natur des Menschen hineingesenkt. Auf dieser Grundlage aber haben sittliche, rechtliche und religiöse Ordnungen dieses Element der Natur in eine Schöpfung der sittlichen Kultur umgebildet. Damit ist schon die Antwort auf die Frage gegeben, was die natürliche und zunächst gegebene F o r m d e r E h e — s c h l i e ß u n g sei. Die bloße Vereinigung der G e s c h l e c h t e r könnte sie an sich schon aneinander binden und eine Ehe, einen Bund für das Leben, begründen. Das lehrt nicht nur die Rechtsgeschichte, sondern auch schon die reine ethische Ueberlegung. »Was soll denn aus den beiden Menschen werden, welche die innigste Vereinigung miteinander gefeiert haben? Die Ehe ist notwendig, nicht sowohl vor dem Geschlechtsverkehr, als nach demselben. Es muß als das tiefste Elend betrachtet werden, dem der Mensch anheimfiele, wenn er die Begattung nicht als die Form ewiger Verbindung ansehen dürfte.« So lehrt Hermann Cohen in seiner Ethik des reinen Willens. Und das zeigt uns auch die Geschichte. Es hat anscheinend Zeiten gegeben, in denen die bloße Verbindung von Mann und Weib zugleich auch die Form der Eheschließung gewesen ist, ohne daß ein Verlöbnis und eine Trauung vorangegangen wären. Vielleicht ist das wirklich die älteste Form der Eheschließung auch bei unseren Vätern gewesen. Wenigstens scheint Maimonides die Sache so aufzufassen, wenn er (H. Ischuth I, 2) den Abschluß durch Urkunde und die Verbindung durch Beiwohnung als die Wege bezeichnet, auf denen nach der Bibel eine Ehe geschlossen werden könne, während ihre Begründung durch Uebergabe eines Wertgegenstandes, wie sie heute allein bei uns üblich ist, auf eine Anordnung der Sofrim Zurückgehe. Und auch die M i s c h n a h Kidd. I, 1 lehrt, die Frau werde erworben auf drei Wegen, durch Geld, durch Urkunde und durch Beiwohnung.
Der jüngste Bearbeiter dieses schwierigen und verwickelten Gebiets, J a c o b N e u b a u e r , dessen umfangreiche Beiträge zur Geschichte des biblisch-talmudischen E h e s c h l i e ß u n g s r e c h t s (Mitteilungen der Vorderasiatischen Gesellschaft (E. V.) 1919 1920, Leipzig. J. C. Hinrichs’sche Buchhandlung, 1920, XVI. und 249 S.) den Anlaß zu diesen Bemerkungen geben, nennt diesen Erwerb der Frau durch Beiwohnung »monströs« (S. 34). Aber anscheinend mit Unrecht. Denn begreiflich ist diese Form durchaus, ethisch wie historisch. Richtig ist allerdings, daß sie unserem Gefühl durchaus widerstrebt, und daß sie außerdem die allerschwersten Nachteile regelmäßig im Gefolge haben wird. Denn jener Trieb der menschlichen Seele, die großen Ereignisse des Lebens durch feste Formen aus dem Flusse des Lebenslaufs herauszuheben, kenntlich zu machen und jedem Zweifel zu entrücken, wird hier nicht befriedigt. Ferner ist hier nur die natürliche Seite der Ehe berücksichtigt. Es tritt dagegen nicht hervor, daß sie auch ein Institut des Rechts und der Religion ist. Keinerlei Fürsorge ist getroffen, um Rechte und Pflichten der Gatten festzusetzen, um namentlich auch dem schwächeren Teile, der Frau, sicherheit zu gewähren und um der einmal geschlossenen Ehe auch Dauer zu verschaffen. Die Gatten, die sich formlos gefunden haben, können einander auch formlos davonlaufen. Alles, was wir heute gegen die freie Ehe geltend machen, muß man auch gegen dieses Verlöbnis durch Beiwohnung geltend machen. Und so ist denn in der Tat auch die Entwicklung im Judentum verlaufen. Im dritten nachchristlichen Jahrhundert kam es vor, daß in Babel Braut und Bräutigam ohne weitere Verlobung oder Trauung, nur durch Beiwohnung sich verbanden. Rab aber ließ sie mit Ruten streichen. (Kidd. 12b.) Und später hat man diese Form der Verbindung überhaupt verboten, weil sie eine Frechheit sei (Eben Haeser 26,4).
Durch eine Form, die das Recht geprägt hat, muß vielmehr die Ehe geschlossen werden. Was aber soll diese Form sein? Die Antwort ergibt sich in frühen Zeiten schon aus der Doppelnatur der Ehe. Diese ist die Grundlage der Familie, zugleich aber ein Institut der Wirtschaft. Ehe und Geld pflegen enge mit einander zusammenzuhängen. Irgend Jemand hat dabei zu bezahlen. In der alten Zeit kauft der Bräutigam die Braut. Bei den primitiven Völkern ist nach der Feststellung der Ethnographen und Historiker die Ehe meist, vielleicht Sogar durchweg, K a u f e h e. In entwickelten Verhältnissen ist es umgekehrt; da bekommt der Bräutigam eine Mitgift. Beides ist im Grunde dasselbe, geändert hat sich nicht Idee und Auffassung der Ehe, nur die Zustände und die Verhältnisse sind andere geworden, und wie sich aus der Kaufehe ihr scheinbares Gegenstück, die Mitgift, entwickelt hat, ist bekannt, kann aber hier außer Betracht bleiben. Auch unsere modernen Gesetze zeigen bis auf den heutigen Tag den engen Zusammenhang zwischen Ehe und Wirtschaft. 291 Paragraphen umfaßt in unserem Bürgerlichen Gesetzbuch der Abschnitt »Bürgerliche Ehe«. Davon nimmt der sechste Titel, das eheliche Güterrecht, allein 200 in Anspruch.
Daß ein Mensch gekauft werden soll, wie eine Ware, ist für uns ein befremdender Gedanke. Die unschätzbare Persönlichkeit scheint hier an Stelle ihrer Würde einen Marktwert zu bekommen, und an die Stelle der Werbung und des freien Entschlusses soll ein Kauf treten, bei dem das Weib ohne seinen Willen verschachert wird. Aber alle diese Erwägungen brauchen für die alte Zeit keinen Anstoß zu bilden und sind zum Teil auch für uns nur scheinbar vorhanden, in Wirklichkeit aber gegenstandslos. Vertraut ist zunächst der alten Zeit der Gedanke, daß der Mensch einen festen abschätzbaren Wert hat. Die Germanen hatten die Einrichtung des Wergelds und nahmen keinen Anstoß daran, daß der Hörige das halbe, der Adlige das dreifache Wergeld des freien Mannes genoß, daß also für die Angehörigen Verschiedener Stände Verschiedene Wertsätze schematisch aufgestellt wurden. Auch dem Pentateuch ist die Abschätzung der Persönlichkeit vertraut. Wenn ein Ochse einen Knecht oder eine Magd stößt, soll der Eigentümer dem Herrn des Sklaven eine feste Taxe von 30 Sekel bezahlen (II. M. 21, 32). Und wenn einer eine Person dem Ewigen weihte, konnte der Geweihte ausgelöst werden. III. M. 27 wird für diesen Fall ein eingehender Tarif aufgestellt mit abgestuften Sätzen für junge und für ältere Leute, für Männer und für Frauen. Die Schätzung Sieht »von allen physischen, geistigen, sittlichen und sozialen Besonderheiten des Betreffenden ab und modifiziert sich nur nach Geschlecht und Alter« (Hirsch z. St. III, S. 626). So konnte es auch keinen Anstoß erregen, wenn für die Frau ein Preis festgesetzt war. Ja, es mochte für sie eine besondere Ehre sein, wenn ihre Angehörigen einen recht hohen Preis für sie verlangten. Je mehr sie wert war, desto mehr galt sie, und je höher sie sozial stand, desto mehr mochte für sie gefordert werden. Als Saul dem David durch seine Knechte mitteilen ließ, daß er ihn zum Eidam wünsche, war jener bedenklich, weil er ein armer und geringer Mann sei. Saul aber ließ ihm zu seiner Beruhigung sagen, er verlange keinen Mohar, keinen Preis für seine Tochter. Dabei brauchte die Frau k e i n e s w e g s z u r W a r e zu werden. Denn die Kaufehe ist das Gegenteil von einem Frauenkauf. Auf der Ehe liegt der Nachdruck, nicht auf dem Kaufe. Nicht ein Weib wird gekauft, sondern eine Ehe wird geschlossen. Der Mann wird nicht Eigentümer, sondern Gatte seines Weibes, und das Weib wird nicht das Eigentum, sondern die Ehefrau ihres Mannes. Nichts hat diese Art der Eheschließung mit dem Kaufe gemein, als das äußere Gewand. Der Kaufvertrag war ja nur die rechtliche Form, in der der Gatte die Gattin zur Ehe erwarb, und sie mochte ihre volle persönliche Geltung dabei behalten. Gegen ihren Willen wird auch damals kein verständiger Vater seine Tochter zur Ehe gezwungen haben. Die Erzählung im ersten Buche Samuel, wie die Tochter Sauls das Weib Davids wurde, beginnt ja auch: «Michal, die Tochter Sauls, liebte den David. Man meldete es dem Saul, und es war ihm recht« (l. Sam. 18, V. 20 ff). Bei den Germanen beruhte die Ehe bestimmt auf einem Brautkauf, aber dieser »besaß nicht die Bedeutung eines Sachenkaufes, sondern war ein familienrechtlicher Akt, der als Hingabe der Braut in Adoption aufgefaßt wurde« (Schröder, Lehrbuch der deutschen Rechtsgeschichte, 2. Aufl. S. 68). Auch die Kaufehe ist eben an sich eine reine Rechtsform. Ob sie für die Frau entwürdigend ist oder nicht, das hängt ganz ab von dem Geiste, mit dem das Rechtsinstitut erfüllt wird. Ein guter Geist adelt, ein geringer entwürdigt eine jede Form.
Sicher herrschte die Kaufehe in der Jugendzeit vieler zivilisierter Völker, gewiß bei den Germanen, bei den Römern und bei den Babyloniern. ln Rom hieß eine der alten Eheformen ohne weiteres coemtio, weil dabei die Frau »per quandam imaginariam venditionem« in die Gewalt des Mannes gelangte. Und in Babylon behandelte der Kodex Hammurabi ausdrücklich den Fall, daß der Bräutigam in das Haus seines Schwiegervaters Geschenke geschickt und den Brautpreis bezahlt habe (§ 159—161). Herrschte sie aber auch im alten Israel?
Das ist ein schweres Problem. Denn wir sind über die Formen der Eheschließung dort nur schlecht unterrichtet. Maimonides nahm, wie schon erwähnt, nur zwei Formen als biblisch an, die Begründung der Ehe durch Beiwohnung und den Abschluß durch schriftliche Urkunde. Die verschiedenen biblischem Gesetzbücher geben zwar ausdrückliche Bestimmungen über die Scheidung, nicht aber über die Schließung der Ehe, und es könnte wohl sein, daß die alte Zeit manche Form kannte, von der wir heute nichts mehr wissen, und die sich nur in dürftigen Andeutungen in den poetischen oder prophetischen Büchern erhalten hat. »Breite Deinen Mantel aus über Deine Magd«, bittet Ruth (3,9) den Boas. Und bei E z e c h i e l 16, 18 Spricht Gott: »Ich schritt an Dir vorüber und schaute Dich, und siehe, Deine Zeit. die Zeit der Liebe war gekommen. Und ich breitete meinen Mantel über Dich und bedeckte Deine Blöße, und ich leistete Dir einen Schwur und trat in den Bund mit Dir, und Du wurdest mein«. Man hat daraus auf eine sonst nicht bezeugte Form des Verlöbnisses durch Bedeckung mit dem Mantel und durch Eid geschlossen. Bei dieser nicht geklärten Sachlage scheint aber doch die Vermutung berechtigt, daß auch das alte lsrael die Kaufehe gekannt habe, und daß aus ihr sich jene heute noch bei uns giltige Form entwickelt habe, die die Mischnah Kidd. I,1 an erster Stelle nennt, wenn sie wie schon erwähnt, feststellt: »Die Frau wird auf drei Wegen erworben, durch Geld, durch Urkunde und durch Beiwohnung.« Die Bibel erwähnt oft die Eheschließung. Elieser freit für Isaak um Rebekkah, Jacob wirbt um Leah und Rahel, David um die Tochter Sauls. Allen diesen sonst Verschieden gelagerten Fällen ist ein Moment gemeinsam. Der Bräutigam muß bezahlen, er muß den »Mohar« geben. Was aber dieser Mohar gewesen, ob ein Kaufpreis, der dem Vater der Braut zustand, oder aber eine Morgengabe an die junge Frau, diese Grund- und Kernfrage, die für die Beurteilung des ganzen Problems entscheidend ist, läßt sich aus unseren Quellen nicht mit voller Sicherheit feststellen. ln den Gesetzen des Pentateuch kommt das Wort nur einmal vor, II. M. 22, 15, 16. Die jüdischen Exegeten haben es immer in der Bedeutung »Morgengabe« aufgefaßt. So Raschi und Raschbam, die es (zu I. B. M. 34. 12) im Anschluß an den Midrasch ohne weitere mit Kethubah wiedergeben, so S. R. Hirsch z. St., wenn er das Wort mit »Ehegut, Geldverpflichtung des Mannes gegen die Frau« im Gegensatz zu den Geschenken an die Familie wiedergibt. Diesen Vorgängern schließt sich jetzt Neubauer an mit der Erklärung, mit der Bedeutung »Morgengabe« für Mohar könnten wir an sämtlichen Stellen auskommen (S. 210). Trotz dieser gewichtigen‏ Stimmen scheint aber dieses Ergebnis höchst zweifelhaft zu sein. Das Quellenmaterial ist ja so spärlich, daß es ein sicheres Urteil nicht erlaubt. Aber die schon erwähnten und für unser Problem so wichtigen Abreden zwischen David und Saul fordern offenbar eine andere Deutung. Wir erinnern uns, wie David bei dem ehrenvollen Antrag des Königs Angst hat, weil er »ein armer und geringer Mann sei«, und wie ihn Saul durch die Zusicherung beruhigt, er wolle keinen Mohar. Nur um einen Brautpreis, der an den Vater, nicht aber um eine Morgengabe, die an die Tochter zu entrichten ist, scheint es sich in diesem Falle zu handeln. Und zugleich entkräftet diese Stelle die Folgerung, die B u c h h o l z (Die Familie in rechtlicher und moralischer Beziehung, 1867, S. 41) aus der Tatsache zieht, daß das Wort nur an solchen Stellen des Pentateuch Vorkomme, wo von einer virginitas erepta die Rede sei. Bei Michal ist hieran gar nicht zu denken, und die Bedeutung des Wortes reicht viel weiter.
Die Fälle in der Bibel mögen zweifelhaft sein. Unter allen Umständen aber scheint d a s t a n n a i t i s c h e S c h r i f t t u m die Ehe als einen Kauf anzusehen. Darauf deutet der regelmäßige Sprachgebrauch. M. Keth I, 5 erhebt der junge Ehemann Klage, seine Frau sei bei Eingehung der Ehe nicht mehr Jungfrau gewesen, »und mein K a u f ist ein irriger Kauf gewesen«. Keth. 17a wird ein eigentümlicher Fall behandelt, in dem man ausnahmsweise einmal Fünf gerade lassen darf. Wenn nämlich die Braut lahm oder blind ist, darf man sie nach der Schule Hillels, die auch in diesem Punkte die Liebenswürdigkeit ihres Stifters nicht verleugnet, als ein anmutiges und schönes Weib preisen. Denn »wenn Jemand eine schlechte Ware gekauft hat, soll man sie dennoch rühmen«. Wie ja auch Goethe später den Rat gibt: »Preise dem Kinde die Puppe, wofür es begierig die Groschen hinwirft! Wahrlich, Du bist Kindern und Krämern ein Gott« Keth. 10b wird ein junger Ehemann, der zu Unrecht behauptet hatte, seine Frau sei bei der Hochzeit nicht mehr Jungfrau gewesen, von Gamliel dem Aelteren zurückgewiesem: »Gehe hin und erwirb Deinen Kauf!« Taan. 31a bieten die Mauerblümchen die jungen Männer, sich ihrer zu erbarmen: »Machet Euren Kauf um Gottes Willen«. Durchgängig wird also im Sprachgebrauch der Erwerb der Frau als Kauf bezeichnet. Und dieser Sprachgebrauch ist mehr als eine Redensart. Denn er Steht im Einklang mit der rechtlichen Auffassung der Verlobung im Talmud. Stellt doch dieser den Erwerb der Frau durch einen Gegenstand von Geldeswert in Parallele zu dem Erwerb eines Feldes durch Geldzahlung (Kidd. 44 b mit Bezug auf V. B. M. 24, 1). Er sieht also in dem Verlöbnis nicht einen besonderen, unvergleichlichen Akt der Begründung einer Familie, sondern eine Analogie zu anderen, sachenrechtlichen Erwerbsarten. Autoritäten des Mittelalters waren der gleichen Auffassung. So sagt an einer Stelle, die uns in einem anderen Zusammenhang noch beschäftigen wird, B. b. 48 b R a s c h b a m ganz einfach das Verlöbnis gleiche dem K a u f e, denn die Braut verkaufe sich selber ihrem Manne. Eine ganze Reihe rabbinischer Forscher, die mehr oder weniger entschieden die gleiche Auffassung vertreten, Von Holdheim bis zu Hoffmann und Dünner, Krauß, Blau und Tschernowitz, zählt N e u r S. 8 und 9 auf.
Falls aber auch im Judentum die Ehe in früher Zeit als ein Kauf betrachtet worden sein sollte, hat sich diese Auffassung schon f r ü h g e ä n d e r t. Die Ehe ist bald zu einem ausgesprochenen Vertrag geworden. Das beste Zeugnis dafür liefert unsere Kethubaurkunde. Denn hier wird zunächst bezeugt, daß der Bräutigam die Braut aufgefordert hat, sie solle ihm zum Weibe sein nach dem Gesetze Mosis und Israels. Und nachher wird ausdrücklich festgestellt, daß die Braut dem zugestimmt habe. Freilich muß der Bräutigam der Braut dabei ein Keseph, einen‏ Gegenstand von Geldeswert überreichen. Sein rechtliches Wesen läßt verschiedene Erklärungen zu. Er könnte das »Kinjan« sein, durch das, wie noch näher auszuführen sein wird, im jüdischen Recht Verträge perfekt werden. so faßt ihn Neubauer auf. Er könnte aber auch der Kaufpreis sein, der an die Frau selber bezahlt wird. Denn wir finden die Kaufehe auch in der Form, daß die Frau sich selber verkauft. so faßt sie Raschbam a. a. O. auf. Diese Spielart tritt uns auch in der römischen coemtio entgegen.
Mag nun diese »Anheiligung«, die »Kidduschin«, einen Kaufvertrag darstellen oder nicht, auf alle Fälle ist ihre Wirksamkeit begrenzt. Sie ist eben nur »Anheiligung« sie bindet Braut und Bräutigam aneinander, aber sie bedeutet noch nicht den Vollzug der Ehe. Diese ist erst dann voll begründet, wenn Braut und Bräutigam zusammenleben und ein eigenes Haus errichten. Nicht schon durch die K i d d u s c h i n , sondern erst durch die C h u p p a h werden sie Mann und Weib. Dieser Grundsatz findet seinen Ausdruck in der Berakha, daß Gott sein Volk Israel heilige durch Chuppah und Kidduschin. Eigentümlicherweise nimmt aber die Urkunde, die über die Trauung aufgenommen wird, die Kethubah, von diesem wichtigen Element der Eheschließung keine Notiz. sondern sie erwähnt nur die »Anheiligung«, nur das Versprechen, das der Bräutigam abgegeben, und die Erklärung, durch die die Braut es angenommen hat.
Bei unserer heutigen Trauung wird das gemeinsame Haus, das die Brautleute errichten, durch den Trauhimmel oder auch durch das Talith dargestellt, das über beide gebreitet wird. Chuppa und Talith sind demnach nicht entbehrliche Sinnbilder, sondern sie sind für die Gültigkeit der EheschlieBung wesentlich. Ohne Chuppa keine Ehe.

II.

Mit allen diesen Fragen beschäftigt sich auch die große Arbeit von N e u b a u e r über die Geschichte des biblisch — talmudischen Eheschließungsrechts.
Am Anfang steht nach ihm eine sehr einfache Form der Eingebung der Ehe. Sie besteht nur aus einem einzigen Akte, der Beiwohnung. Im Uebrigen kenne die alte Zeit weder Verlöbnis, noch Trauung. Damit berührt sich Neubauer mit der Eingangs erwähnten Lehre des Maimonides. Später aber Sei diese rohe Form der Eheschließung verdrängt worden. Nur in Zeiten des sittlichen Niedergangs sei sie wieder aufgetaucht, z. B. in dem Babel des dritten nachchristlichen Jahrhunderts, und hier sei sie denn auch von Rab gebührend mit Geißelhieben beantwortet worden. In der Mischnah K i d d u s c h i n I, 1 werde sie zwar erwähnt, aber gerade das erscheine dem modernen Menschen als »monströs«. Man könne diese Mischnah nur erklären als dunkle Reminiszenz an eine Rechtsform, die im zweiten Jahrhundert nach Christus, als die Mischna redigiert wurde, einer schon lange verschonenen Vergangenheit angehört habe. Er bedenkt dabei nicht, daß auch bei den Römern die Ehe ohne weitere Form durch bloße Willenseinigung der Brautleute geschlossen werden konnte, nach dem Grundsatz: consensus facit nuptias, dass ferner auch in diesem Fall nach den XII Tafeln die strenge Rechtsfolge einer solchen geschlossenen Ehe, die eheherrliche Gewalt (manus), durch den ununterbrochenen Aufenthalt der Frau im Hause ihres Mannes während der Dauer eines Jahres (usuus) eintrat. Dieses Rechtsinstitut ist zwar nach dem Zeugnis eines Zeitgenossen des R. Jehudah Hanassi, des römischen Juristen Gajus, im Laufe der Zeiten außer Uebung gekommen. Trotzdem hätte ein Römer an der genannten Mischnah gewiß so wenig etwas Auffälliges gefunden, als ein Mensch von heute.
Die Folgezeit aber habe ganz andere Formen für die Eheschließung ausgebildet. Vor Allem habe sie den einst einheitlichen Akt in zwei Hälften gespalten, in die »Verlobung«, den Vorvertrag auf Eingehung der Ehe, der eine rechtliche und persönliche Bindung der Brautleute herbeiführte, und in die Trauung, die die Ehe tatsächlich begründete. Die Trauung, die eheliche Vereinigung, habe in der Chuppa und in dem einsamen Beisammensein der Brautleute nach dem Verlöbnis, den Kidduschin, ihr Symbol gefunden. Das Verlöbnis aber sei ein Vertrag gewesen, wie ein anderer auch, und deshalb in jenen Formen geschlossen worden, nach denen nach der Halachah eben Verträge perfekt würden. Denn hier bindet die bloße Abrede nur moralisch. Eine rechtliche Verpflichtung dagegen tritt nur ein, wenn der Teil, der ein Recht erwirbt, dem anderen einen geldwerten Gegenstand, ein Kinjan, übergiebt. Damit sei auch die eigentümliche Form in der Mischnah erklärt. Wenn es hier heiße, die Frau werde durch Geld erworben, so habe dieses «Keseph«, dieser geldwerte Gegenstand nicht den Sinn eines Kaukpreises, sondern nur die Bedeutung des Kinjan, das den Vertrag perfekt und die bloß mündliche Abrede rechtswirksam mache.
Viel wichtiger als all das Zutreffende und das Irrige, was Neubauer positiv ausführt, ist das, was er bestreitet. Er läßt dahingestellt, was in vorgeschichtlicher Zeit in Israel Rechtens war. Im Uebrigen aber ist sein ganzes Buch eine einzige Polemik gegen die Annahme einer Kaufehe in Israel in historischer Zeit. Und der Kern seiner Beweisführung liegt auf dem Gebiete des Vertragrechts, nicht auf dem Felde des Familienrechts.
Denn der Kauf ist in der Halachah höchst eigentümlich geregelt, und es finden sich hier viele jener Sätze, die der rabbinische Sprachgebrauch als »Chidduschim«, als paradox bezeichnet. Vor Allem erwirbt der Käufer durch den bloßen Kaufvertrag rechtlich überhaupt keinen Anspruch gegen den Verkäufer. Keine Partei ist rechtlich durch die Kaufabrede gebunden! Aber die Reihe der juristischen Merkwürdigkeiten geht weiter. Nach dem Talmud erwirbt nämlich der Käufer noch nicht einmal durch die Zahlung des Kaufpreises ein Anrecht an der gekauften Sache. Vielmehr kann der Verkäufer dem die Ware bereits bezahlt worden ist, immer noch darüber verfügen und jederzeit vom Kauf zurücktreten! Erst wenn sie dem Käufer übergeben worden ist, erst dann ist sie sein Eigentum, und erst dann ist der Kauf gültig und bindend.
Hier setzt nun Neubauer ein, und aus diesen schwer begreiflichen Sätzen leitet er die Unmöglichkeit einer Kaufehe im Judentum ab. Wäre das Geld, das der Bräutigam beim Verlöbnis der Frau auszahlt, wäre der Ring, den er übergibt, ein Kaufpreis, dann wäre er ein untaugliches Mittel. Der Mann würde das Weib dadurch nicht erwerben, da ja der Käufer nicht schon mit der Preiszahlung, sondern erst mit der Uebergabe die Ware zu Eigentum erwirbt. Die eingehende Entwicklung dieses geistreichen und scharfsinnigen Gedankens und der Konsequenzen, die er daraus zieht, füllt einen erheblichen Teil seines Buches. So interessant und fesselnd aber seine Ausführungen auch sind, so u n s i c h e r u n d a n f e c h t b a r ist das Ergebnis, das er dadurch gewinnt.
Der rechtliche Tatbestand ist nämlich im Talmud ganz außerordentlich kompliziert. Denn der ganze Satz, Neubauers Fundament, wird in seiner Geltung für die biblische Zeit vom Talmud bestritten. Eine halachische Größe allerersten Ranges, der palästinische Amoräer J o c h a n a n , erklärte nämlich im dritten nachchristlichen Jahrhundert, nach der biblischen Satzung werde der Kaufvertrag durch die Preiszahlung perfekt. Der Käufer erwerbe also das Eigentum an der Ware in dem Augenblick, in dem er den Kaufpreis entrichtet habe (B. m. 47 b). Falls Jochanan Recht hat, ist auch der Geldbetrag, den der Bräutigam bei den Kidduschin der Braut übergibt, ist der Ring, den er ihr an den Finger steckt, ein taugliches Mittel, um das Weib zu erwerben und den Kauf bindend zu machen, ist mithin die ganze Deduktion Neubauers hinfällig.
Nur für die biblische Zeit stellt Jochanan seinen Lehrsatz auf. Für die nachbiblische Periode lehrt auch er die rechtliche Belanglosigkeit der Preiszahlung, und ist mit allen anderen Amoräern darin einig, daß regelmässig nur durch die Tradition die Ware in den Besitz des Käufers übergeht. Hier liegt also einer der interessanten Fälle vor, wo die Gemarah selbst einen Wechsel der Rechtssätze und damit eine Entwicklung des Rechts im Laufe der Geschichte lehrt. Die Erwägung, mit der sie diese schwerwiegende Aenderung motiviert, gibt uns indessen ein hartes Rätsel auf. Denn sie begründet sie mit einem falschen Argument. Dem Satze von Jochanans fügt nämlich ein Ungenannter die Erklärung hinzu: »Und warum haben sie gesagt, nur die Tradition könne den Eigentumsübergang bewirken? Aus Besorgnis, der Verkaufer könne zum Käufer sagen: D e i n Weizen ist im Speicher verbrannt«. Ginge die Ware mit der Entrichtung des Kaufpreises in das Eigentum des Käufers über, dann wäre sie bis zum Augenblick der Uebergabe im Eigentum des Käufers, aber im Besitz des Verkäufers. Dieser würde sich um die fremde Sache nicht mehr bekümmern, weil er an ihr kein Interesse mehr habe, und wenn ein Brand im Speicher ausbrechen würde, würde er ruhig zusehen, wie der Weizen, den er Verkauft und den der Käufer noch nicht übernommen habe, verbrenne. Um den Käufer vor diesem Mißgeschick zu bewahren, habe man die Gefahr für den zufälligen Untergang der Ware in der Zeit zwischen der Preiszahlung und der Uebergabe dem Verkäufer aufgebürdet. Nachdem man aber einmal A gesagt habe, habe man auch B sagen müssen, und habe den Verkaufer, der doch den Kaufpreis bereits empfangen hatte, bis zum Augenblick der Uebergabe als Eigentümer mit dem Rechte des Rücktritts belasten müssen. Diese unsinnige Konsequenz ist aber unnötig und ihre Voraussetzung ist unzutreffend. Denn der Verkaufer kann in Wirklichkeit nicht sagen: Dein Weizen ist im Speicher verbrannt. Sobald er den Kaufpreis erhalten hat, ist er vielmehr Verwahrer, Schomer nach dem Sprachgebrauch des Talmud. Als solcher ist er aber Verpflichtet, für die bedrohte Ware zu sorgen und den Brand nach Kräften zu löschen. Versäumt er diese Pflicht, dann ist er schadenersatzpflichtig. Nach den feststehenden Grundsätzen der Halacha haftet er unter allen Umständen, er mag Entgelt dafür erhalten oder nicht, wenn das Verwahrte Gut durch seinen Leichtsinn zu Grunde geht. Unter allen Umständen ist daher die Behauptung der Gemarah falsch, und wenn die Ware im Speicher des Verkäufers verbrennt, kann sich dieser nur dann entschuldigen, wenn er alles, was möglich war, Zur Abwendung des Schadens getan hat. Aber abgesehen davon ist jene Konsequenz auch ganz unnötig, und die Gemarah konnte ganz andere, viel befriedigendere Lösungen finden. Das Problem des Gefahrübergangs beim Kaufvertrag liegt ja im Wesen der Sache und taucht notwendig in jedem Rechte auf, hat auch die Verschiedensten Antworten zu allen Zeiten und bei allen Völkern gefunden. Um nur zwei davon herauszugreifen, geht im römischen Recht nach bekannten Grundsätzen die Gefahr für den Untergang der verkauften Ware mit dem Kaufabschluß und noch vor der Uebergabe auf den Käufer über. Unser B. G. B. dagegen wählt in § 446 Abs. 1 den umgekehrten Weg, wenn es bestimmt, mit der U e b e r g a b e der verkauften Sache gehe die Gefahr des zufälligen Untergangs und einer zufälligen Verschlechterung auf den Käufer über. Dagegen findet sich die von der nachbiblischen Zeit nach dem Zeugnis von Jochanan gewählte Regelung, die Unverbindlichkeit des Kaufvertrags bis zur Abnahme der Ware, sonst nur noch bei »afrikanischen Naturvölkern« (Neubauer S.105.)
Die Begründung, mit der die Gemarah die Behauptung Von Jochanan zu stützen sucht, ist also in jeder Hinsicht unhaltbar. Sein Satz kann aber trotzdem richtig sein, und nach biblischem Gesetz kann dennoch das Eigentum an der Ware mit der Preiszahlung übergehen. Schwer fällt dabei zu Jochanans Gunsten die Tatsache ins Gewicht, daß lmmobilien zweifellos durch Preiszahlung und ohne Uebergabe vom Käufer zu Eigentum erworben werden (Mischna Kidd. I,5). Neubauers Auseinandersetzung mit diesem für ihn so bedenklichen Faktum (S. 106—114) ist interessant und geistreich, aber alles andere, als überzeugend. Und seine Feststellung, daß die Rechtssätze über die Liegenschaftsveräußerung im Talmud eine modernere Gestaltung verrieten, als das Fahrniskaufrecht, erklärt sich zwanglos und natürlich durch die Annahme, daß Jochanan Recht hat, und daß nach den biblischen Bestimmungen auch bewegliche Sachen durch Preiszahlung den Eigentümer wechseln.
Doch dem sei, wie ihm wolle. Auf keinen Fall sind seine Darlegungen beweiskräftig und selbst wenn sie unanfechtbar sein sollten, würde durch sie noch nicht mit Notwendigkeit die Hypothese der Kaufehe im alten Israel ausgeschaltet werden.
Denn der Talmud ist zu einem allgemeingiltigen Grundsatz über den Kaufabschluß überhaupt nicht gekommen. Vielmehr erkennt er je nach der Verschiedenheit des Kaufobjekts ganz verschiedene Formen an. Wir sehen ab von der schon erwähnten Tatsache, daß Immobilien und Sklaven durch Geldzahlung zu Eigentum erworben werden. Aber auch für Mobilien gilt gelegentlich der gleiche Grundsatz, und der Talmud führt mithin sein eigenes Prinzip nicht ohne Ausnahmen durch. Geht doch im Verkehr nicht Nichtjuden stets, im Verkehr mit Juden aber wenigstens gelegentlich das Eigentum an Mobilien mit der Preiszahlung auf den Käufer über. »An vier Tagen, heißt es C h u l l i n 83a , erwirbt der Käufer die Ware schon vor der Uebergabe durch die Preiszahlung, nämlich an den Rüsttagen zu den Feiertagen«. Diese denkwürdige Stelle hat allgemeine Bedeutung als Beleg für das wichtige Problem, wie im Judentum das Zivilrecht vom religiösen Ritus beeinflußt wird. Im speziellen Fall aber zeugt es eine für Neubauer sehr schwerwiegende Tatsache. Auch bei Mobilien kann also unter Umständen die Preiszahlung für den Uebergang des Eigentums maßgebend sein. Dann aber braucht die Halachah, wenn sie für den Abschluß der Ehe das Gewand des Kaufvertrags wählt, sich nicht an die Form Zu binden, die in der Regel für den Warenkauf maßgebend ist. Es kann auch jene vorziehen, die nur an den genannten vier Tagen gilt, und kann sich an der Zahlung des Preises oder des Symbols dafür genügen lassen. Was an Erew Pesach recht ist, kann an einem beliebigen anderen Tage billig sein. Und deshalb sind wir zu dem Urteil berechtigt, daß Neubauers Deduktionen die Frage nicht entscheiden, selbst wenn sie im Uebrigen tadellos sein sollten. Die Frage nach der rechtlichen Natur der Eheschließung bleibt vielmehr in der Schwebe, und es ist möglich, wenn auch nicht sicher, daß auch das alte Judentum die Kaufehe gekannt hat.

III.

Von einer Prüfung der zahlreichen anderen Probleme, mit denen sich Neubauer sonst auseinandersetzt, sehen wir ab und wollen lieber seine Leistung im Ganzen betrachten. Auf alle Fälle hat er ein ungewöhnliches Buch geschaffen, und man kann von ihm außerordentlich viel lernen. Wenn man von den großen Vertretern der talmudischen Wissenschaft in der älteren Generation, einem David Hoffmann, einem Eduard Baneth, absieht, wird er unter den heute Lebenden an Reichtum und Umfang der jüdischen Wissens im weitesten Sinne nicht viele seines Gleichen haben. Er kennt genau die Bibel und ihre hebräischen Kommentatoren, ist aber auch gründlich beschlagen in der modernen Bibelwissenschaft, ihrer Methode und ihren Ergebnissen. Das biblische und das talmudische Recht sind ihm wohlvertraut, aber er kennt auch gut die altsemitischen Rechte vom Kodex des Hammurabi über die anderen Bruchstücke und Ueberbleibsel der altbabylonischen Gesetze bis zu den aramäischen Papyri. Und alle diese Quellen zitiert er nicht nur, sondern er weiß sie auch zu deuten und in den großen Zusammenhang eines von ihm vermuteten semitischen Rechts einzufügen. Aber weit über diesen Kulturkreis hinaus kennt er das Recht als eine allgemeine menschliche Erscheinung So beherrscht er das römische Recht in seiner klassischen Gestalt, aber auch in jener eigentümlichen Bildung, die für die Beurteilung des Talmud eben so wichtig ist, wie die Institutionen und die Pandekten, in der Erscheinung des hellenistisch-römischen Provinzialreclits, das er auch ausgiebig und erfolgreich zur Vergleichung heranzieht. Gerne stellt er die germanischen Rechte den rabbinischen Bestimmungen gegenüber, er weist Analogien nach und versucht an der Hand des Schulchan Aruch germanische Rechtsgedanken nachzuweisen, die in die Halachah Eingang gefunden hätten. Er verschmäht auch nicht die Rücksicht auf das kanonische Eherecht und die Dogmatik der katholischen Kirche, soweit sie sich mit der Halachah berührt. So prüft er die Kontroverse im Kirchenrecht über die rechtliche Natur des Verhältnisses von Maria und Josef und sieht in der Stellungnahme des kanonischen Rechts einen »Ausklang altisraelitischer und wahrscheinlich sogar altsemitischer Rechtsgedanken«. Von sehr sachverständiger kirchlicher Seite ist seine These privatim als plausibel erklärt worden. Aber sein juristischer Horizont reicht noch weiter. Er kennt sich auch in der vergleichenden Rechtswissenschaft aus. Mit Recht verwirft er eine isolierte Betrachtung des Talmud und sucht ihn in einen größeren Zusammenhang hineinzustellen. Auf allen Gebieten hat er massenhafte Kenntnisse, viel mehr, als für sein Buch gut ist.
Denn es fällt ihm nicht leicht, bei einer Frage oder einer Stelle ruhig zu verweilen. Er ist ein schweifender Geist und kommt vom Hundertsten ins Tausendste. Und trotz des ungewöhnlichen Umfangs seiner talmudischen Bildung entgeht ihm deshalb viel Wichtiges während er Belangloses und Belangreiches in Menge beibringt. So erwähnt er z. B. nicht die interessanten oben S. 7 und 8 angeführten Mischnahstellen, deren Sprachgebrauch für die Beurteilung unseres Problems so wichtig ist. Die bedeutende stelle Chullin 83a wird nicht behandelt. Dafür wird dem Leser immer wieder neues Wissen geboten, dessen Kenntnis gar nicht notwendig ist. Der große Gelehrte Neubauer mit seiner unvergleichlichen Beschlagenheit muß immer Alles sagen, was er weiß, und es geht ihm die große Fähigkeit ab, von diesem Wissen auch einmal zu schweigen, es nur ahnen zu lassen, Einzelheiten im Hintergrund verschwinden zu machen, um die Hauptsache umso kräftiger zu unterstreichen. Infolgedessen sieht man viel zu wenig die großen Linien und wird viel zu viel durch Detail verwirrt.
Neubauer vergleicht das talmudische Recht viel mit anderen und gewinnt so interessante, schöne und fruchtbare Ergebnisse. Das Bild des rabbinischen Judentums wird reicher, wenn wir in anderen semitischen Rechtsquellen die gleichen Probleme oder ähnliche auftauchen sehen und gleiche oder auch abweichende Lösungen finden. Die altbabylonischen Urkunden S. 123 bieten ein wertvolles und ganz unbekanntes Material für wichtige Fragen des talmudischen Vertragsrechts. Der aramäisch-jüdische Papyrus aus Elephantine (S. 110), der über einen Eid im Grundstückprozeß berichtet, zeigt, wie mannigfaltig die Entwicklungsmöglichkeiten der Halachah gewesen sind, und wie wenig die Gemarah den einzigen möglichen Weg der Entwicklung darstellt, denn sie läßt ja einen Eid über Grundstücke gar nicht zu. Mit Recht warnt aber Neubauer im Vorwort vor »wahlloser Zuhilfenahme der Keilinschriften und allgemeiner Erfahrungssätze der Rechtsvergleichung«. Nur verletzt er selber ständig dieses Programm. Neben dem Hammurabi, den Papyri, römischen, griechischen und germanischen Quellen zieht er zur Würdigung des talmudischen Rechts wahllos herbei Bräuche der heutigen Araber, der mongolisch—tartarischen Völker, der Einwohner von Togo und von Birma, der modernen Juden auf Ceylon. In einem einzigen Satz Zitiert er S. 187 »das altbabylonische, altjapanische, chinesische und andere Rechte, bei denen die Verlobung eheähnliche Wirkungen erzeuge«. Kleinigkeiten aus allen möglichen Zeiten, Zonen und Rechten werden aufgeführt von dem ehrwürdigen Hammurabi bis zu »einer kulturell tiefstehenden südwestafrikanischen Völkerschaft, den K i s s i b a l e u t e n, denen ausgebildetes logisches Abstraktionsvermögen abgeht«. Diese Kissibaleute spielen sogar eine besondere Rolle. Sie sind nämlich die Retter in der Not, in die uns die oben geschilderte merkwürdige Regelung der Gefahrtragung beim Kauf im Talmud versetzt. In der ganzen Weltgeschichte des Rechts sind sie »das einzige bis jetzt bekannte Volk«,bei dem sich »eine der talmudischen aufs Haar gleiche Konstellation« findet. In Wirklichkeit wird durch diese massenhaften wahllosen und willkürlichem bodenlosen Vergleiche gar nichts bewiesen und erklärt. Nur der Talmud selber kommt dabei zu kurz, und seine klare Darstellung wird unmöglich gemacht.
Sie strebt nach allen Seiten auseinander. Und diese Entwicklung wird noch gefördert durch Neubauers verhängnisvolle Freude an der Polemik. Er läßt nicht die Sache für sich sprechen, sondern setzt sich lieber mit tausend Gegnern auseinander. Vor lauter Disput vergißt dann der Leser, was denn der Autor eigentlich will. Wenn er sich aber schon in diese Auseinandersetzungen einläßt, müßte er sie sich eigentlich etwas schwerer machen, und über die Einwände, die er nun schon einmal bringt, dürfte er nicht so leicht hinweggehen. So hatte ein Autor mit Bezugnahme auf einen Ausspruch des Amemar B. b. 48 b (nicht a, wie es bei Neubauer heißt) behauptet, ein Verlöbnis, zu dessen Abschluß die Frau gezwungen worden sei, Sei giltig. Demgegenüber behauptet Neubauer, jener Ausspruch werde von der Gemarah strikt abgelehnt. Das ist nicht richtig. Vielmehr ist nach der Bibel ein Solches Verlöbnis in der Tat giltig, und erst die Rabbinen haben es für unwirksam erklärt. Das erklärt in der Gemara ausdrücklich Mar bar Rab Aschi, und Raschbam führt es weitläufig aus. Von anderen Beispielen einer Polemik, die bei genauerer Prüfung in sich zusammenfällt, sehen wir ab.
Eines bleibt uns Neubauer völlig schuldig, ein originales Bild vom Talmud. Mit Vorliebe wendet er auf diesen die Termini des modernen, des römischen und namentlich des germanischen Rechtes an. Die talmudischen Begriffe sind dann maskiert. Der Talmudist mag sie wohl in ihrer Vermurmmung erkennen und in ihre eigene, echte Sprache zurückübersetzen, er fühlt sich aber abgestoßen durch das fremde Gewand, das ihnen übergeworfen ist, und das oft genug zum Spott reizt. T o s. Kidd. III 7 heißt es: »Eine Anheiligung ist gültig, wenn der Bräutigam zur Braut sagt, ich wohne Dir bei unter der Voraussetzung, daß Dein Vater damit einverstanden ist«. Neubauer giebt das wieder in der unerträglich geschraubten Form: Bei einem coitus affectione martiali werde entschieden, daß die Wirksamkeit des Aktes unabhängig sei vom Eintritt der Bedingung. Den Kauf der Höhle Machpela durch Abraham nennt er (S. 107) »den außerhalb der nationalen Wirtschaftsordnung stehenden Vorgang eines Rechtsgeschäfts mit einem Nichtnationalen, der ohnehin mehr als staats- wie als privatrechtlicher Akt anzusehen sei«. Das ist sachlich richtig, aber hier wie an vielen anderen Stellen erscheinen die biblisclien und talmudischen Sätze in einem fremden, pompösen Gewand, in dem sie den gleichen Eindruck erwecken wie ein kleiner Junge, der den Gehrock seines Vaters anzieht und seinen Zylinder aufsetzt. Ohne jeden Grund werden die chalippin des Talmud mit dem Namen der Wadiation, eines Instituts der germanischen Rechte belegt. Die Kidduschin werden dabei als Verlöbniswadia, das Kinjan als allgemeine Vertragswadia bezeichnet. Die Folgen dieser Neigung sind schlimm. Das Bild des Talmud wird durch diese Umtaufung und Verdeutschung seiner Begriffe verfälscht. Er erscheint halbwegs wie ein aramäischer Sachsenspiegel und das ist ebenso verkehrt, als umgekehrt die Verwandlung des Sachsenspiegels in einen deutschrechtlichen Talmud. Diesen Eindruck aber würden wir ohne weiteres hervorrufen, wenn wir in gleicher Manier die deutschrechtlichen Termini durch die entsprechenden talmudischen wiedergäben, etwa das Wittum als Kethuba, die Wadiation als Chalippin. Wer Sinn für geschichtliche Echtheit hat, muß gegen diese Art der Uebertragung einen tiefen Widerwillen empfinden. Das Ergebnis aber beleidigt nicht nur den Geschmack, sondern es ist auch sachlich unrichtig. Jedes Recht hat seinen eigenen Geist und seinen eigenen Aufbau. Die Termini sind irgends bloße Mittel zum Zweck des Ausdrucks, die man beliebig vertauschen könnte. Wir werden das Beth Din Haggadol nicht als das einstige jüdische Reichsgericht und das Reichsgericht nicht als ein modernes Sanhedrin bezeichnen, obgleich beide gleiche Funktionen haben. Je genauer ein Ausdruck das deutsche Recht bezeichnet, desto weniger kann man ihn ohne weiteres auf das jüdische Recht anwenden. Neubauer weiß das sehr genau, handelt aber auch hier seinem richtigen Grundsatz konsequent entgegen. Die chalippin des Talmud und die wadia des deutschen Rechts sind bei einer gewissen äußeren Aehnlichkeit ihrer inneren Struktur nach ganz verschieden. Da genügt nicht Neubauers Entschuldigung (S. 146) »der äußeren Aehnlichkeit beider Akte halber sei der Einfachheit wegen chalippin regelmäßig mit VVadia bezw. Wadiation wiedergegeben, selbstredend ohne damit etwa die bestehende Grundverschicdenheit in der rechtsgedanklichen Auffassung beider Institute übersehen oder verwischen zu wollen«. Aehnlich äußert er sich S. 159 Anm. 2. Der gute Wille hilft hier nichts. Die Begriffe werden dennoch vermischt, verwischt, getrübt. Neubauer scheut sich nicht, die hebräische Kethuba mit dem deutschrechtlichem »Wittum« wiederzugeben. Er scheint nicht zu ahnen, daß er damit seinen Kampf gegen die Hypothese einer Kaufehe im alten Israel aufgiebt. Denn das Wittum ist eben jenes Institut, dessen Geltung im jüdischen Recht er mit aller Energie und mit Aufwand eines ungewöhnlichen Scharfsinns bestreitet, der Kaufpreis für die Braut, dessen Höhe, ganz im Gegensatz zur Kethuba, durch freie Vereinbarung festgesetzt wurde, und den dann nachher der Vormund der Braut in die Ehe mitgab (Schröder a. a. O. S. 291 ff.). Die ganze Verdeutschung ist aber zudem völlig nutzlos. Denn der Talmudist weiß zwar sehr genau, was Kinjan und Kethuba sind, während die Begriffe des wadia und des Wittums ihm fremd sind. Der Germanist aber könnte meinen, beide Begriffe seien in beiden Rechten identisch. Und das wäre ein böser Irrtum.
Auch in seinem Stil zeigt Neubauer wenig Sinn für den Charakter seines Stoffes. Von einem Tanaiten, R. Simon, behauptet er (S. 92). seine Ansicht sei eine erux interpretum! Diesen Ausdruck an dieser Stelle mag man höchstens als einen guten Witz gelten lassen. Auch sonst ist der Stil traurig. Die Sätze sind überladen, das Deutsch oft schrecklich. »Endlich ist in diesem Zusammenhang auch auf das Neue Testament zu sprechen zu kommen«,heißt es S 63. Gelegentlich rügt er einen »Sophismus« (S. 80), erwähnt die »Vereinbarungsreuigkeit« einer Partei oder stellt fest, »das keine der beiden Parteien diesbezüglich engagiert war« (S. 122, 123).
Wir haben in unserer jüdischen wissenschaftlichen Literatur viele bedeutende Werke von bewunderungswürdiger Gelehrsamkeit, voller Scharfsinn und Geist und voll tiefer Blicke. Alle diese hohen Eigenschaften kommen auch dem Buche von Neubauer zu, der großen, bedeutenden Leistung die er geschaffen hat. Aber er versagt in der Darstellung. Nur ein entsagender Leser kann sich durch sein Buch hindurchfinden. Bitter Not tun uns die Männer, die ihre tiefere Erkenntnis vom Talmud auch der weiteren jüdischen und nichtjüdischen Welt mitteilen können. Den Stoff beherrscht Neubauer wie wenige. Umsomehr wird er selber die Pflicht empfinden, ihn der Forschung auch in einer Form zu bieten, in der sie ihn aufnehmen, aus der sie die Eigenart der Gemarah und ihre große Bedeutung für die Kultur der Menschheit erkennen kann. Aus dieser Ueberzeugung ist die Kritik erwachsen, die wir in den letzten Abschnitten an ihm geübt haben. Alle Anstände aber, die wir erhoben haben, sollen die Gewißheit nicht erschüttern, daß das erste Gefühl, das sein Buch in uns erweckt, der Dank für den großen Reichtum an Wissen und Gedanken, an oft richtigen, oft verkehrten, immer aber anregenden und weiterführenden Ideen ist, den er uns geschenkt hat.