Leidenserziehung. (צרות)‎ Kapitel 11

Erwäge den ganzen Weg, den dich geführt Haschem dein Gott, nun vierzig Jahre in der Wüste auf daß Er deine Abhängigkeit dich fühlen lasse, auf daß Er prüfend dich hebe, auf daß erkannt werde das was in deinem Herzen, ob du achten werdest seine Gebote oder nicht. Er ließ dich darben, Er ließ dich hungern, und speiste dann dich mit Man, den du nicht gekannt, und nicht kannten deine Väter, damit Er dich lehre: daß nicht auf Brot allein lebe der Mensch, sondern auf jeglichem Ausspruch vom Munde Haschems leben könne der Mensch. — Dein Gewand ist dir nicht abgealtert, dein Fuß schwoll nicht auf diese 40 Jahre. — So erkenne denn mit deinem Herzen daß, wie ein Mann züchtigend seinen Sohn erzieht, also züchtigend Haschem dein Gott dich erziehe. (V, 8, 2.)

§. 78. Überdenke die Entbehrungen und Leiden alle, die dich Gott in den vierzig Jahren der Wüste bestehen ließ, und wie sie alle zu deinem Besten waren; daß du durch sie deine Schwäche und Gottes Allmacht, aus deiner Erhaltung Gottes Wundergüte, aus deiner Treue und Untreue in Leiden deine sittliche Größe oder Kleinheit kennen lernen und durch die Prüfung gehoben werden solltest; — und erkenne so, daß auch deine Leiden alle von Gottes Vatergüte kommen, die ihr Kind durch Leiden belehrt und bildet, erziehet und prüfend hebt. — So zu den Vätern Mauscheh; — aber nicht sie nur, auch heutiges Jissroel und jeder von uns wird durch Leiden väterlich erzogen; ohne Gott leben auch wir in einer Wüste, und nur Gottes Wort erhält den Einzelnen wie die Gesamtheit mit dem Man Seiner Liebe und Seiner Treue.

§. 79. Begreife darum auch deine Leiden, und danke für sie, wie für die treuste Vatergabe; sie kommen zur Erziehung oder Prüfung. Zur Erziehung lehren sie dich selber dich kennen, deine Richtigkeit, deine Größe; lehren Gott dich kennen, seine Allmacht, seine Allgüte, und geben dir Kraft zum rüstigen Gott dienenden Leben. Zur Prüfung heben sie die innere Reinheit, stärken sie die innere Kraft, und machen den Reinen und Starken stärker und reiner.

§. 80. Erziehungsleiden lehren dich deine Richtigkeit, deine Größe. — Richtigkeit: Wenn im Glück du die Gaben hinnahmst, und über die Gaben des Gebers vergaßest, dein nanntest, was nur geliehen dir war, und so übermütig dich auf dich selber bautest, Gott vergaßest und Seinen Willen, — ausschweiftest über die Schranken, die Gott gezogen, — und die dir geliehenen Güter zum Ziele deiner Willkür verwendetest, nicht zum Ziele göttlichen Willens —: treten ‏,צרות‎ Leiden, ein in deine Hütte und beschränken deinen Übermut, lehren dich die Grenzen deiner Macht, die Gebrechlichkeit deiner Gesundheit, die Schwäche deiner Klugheit, die Ohnmacht deines Willens, die Vergänglichkeit deiner Güter, die Kürze deiner Hand, die nur Geliehenes hat und zurückgeben muß sobald es Eigentümers Wille ist; — kehren Zorauß bei dir ein, und lehren dich Richtigkeit deiner falschen Größe, lehren Bescheidenheit dich.

§. 81. Lehren dich aber auch zugleich Ewigkeit deiner wahren Größe, der Größe, die du sonst verkanntest: Wenn sie dir nun alles nahmen, oder auch nur an allem rüttelten, was dir wird im Leben, und was du nicht selber bist, Gesundheit, Klugheit, Reichtum, Freunde, Ansehn, — und dir alles vergänglich zeigten, worauf du, als auf ewigem Grund, dein Glück zu erbauen gedachtest, und dir nun nichts blieb als dein nacktes Herz, und die Schätze, die du etwa da gesammelt, oder da findest —: so lehren sie dich ja die ewige Dauer der Größe, die du selber bist, der Güter, die ganz allein dein eigen, ganz allein dein Werk sind, der Güter deines inneren Lebens, auf die du sonst nicht geachtet: »Gottesfurcht, Gottesliebe und Gottvertrauen« — und das Bewußtsein, nach Kräften Pflicht erfüllt zu haben und zu erfüllen; — lehren dich in deiner Nacktheit deinen wahren Beruf zum Gottesdiener. —

§. 82. Gottes Allmacht und seine Liebe: Wenn in der Fülle du, über die Fülle der Gaben, Gott, den Geber, nicht schauest, und weil dir viel geworden, auch viel zu sein vermeinest, und nicht gewahrst, wie gerade je mehr dir wird, je weniger du wirst, Gottes, des Allspendenden, Größe hervortritt,und deine, des Allesempfangenden, Größe schwindet; und dir dann fliehet Gottes Andenken, und stolz dich Herrn dünkend, du vergissest, daß Gott dein Herr und Herr des Deinigen sei selbst in deinen Händen —: erblickst du in Leiden, in der Wüste des Lebens, Gottes Allmacht und Allherrschaft, — wie alles nur durch Ihn und von Ihm ist, und so lange nur ist, als Sein Wille Dauer giebt; — und beugst dich vor Seiner furchtbaren Größe und Hoheit.

§. 83. Lernst aber auch vertrauend dich hingeben Seiner allnahen Liebe. Wenn du in der Armut doch gespeist, in der Nacktheit doch gekleidet, in der Krankheit geheilt, in dem Elend erhalten wurdest, tagtäglich Gott dein Geschick neu gründete und pflegte, und du es erfährst, daß nicht nur auf menschlich künstlich geschaffenem Brot der Mensch sein Leben friste, ‏—‎ sondern auf jedem Ausspruch der göttlichen Liebe er zu leben vermöge —: so lernst du —‎ wie Gottes Allmacht fürchten —‎ also auch Seiner Liebe vertrauen. ‏—

§. 84. Und geben dir Kraft zum rüstigen Gott dienenden Leben. Denn nun, wenn sie nun schwinden, die Güter des Lebens, und du beim Scheiden einen Blick wirfst darauf, wie du sie benutzt hast, ‏—‎ und du dir gestehest, mißbraucht zu haben Gottes Güte, — und nichts mehr Von ihnen hast als das quälende Bewußtsein verfehlter Lebensanwendung, —‎ und nur die Augenblicke aus der Vergangenheit dir noch Labung sind, auf die du mit dem Bewußtsein dein Auge weilen lassen kannst: in dem Augenblick war ich gut, war ich Gottes Diener! — und du also erkennest deine wahre Bestimmung, daß sie nicht »Haben« sein könne, sondern »Erfüllen göttlichen Willens« mit viel oder wenig Gewährtem, ‏—‎ und Leiden dich erfüllt haben mit Gottesfurcht und Gottvertrauen —: wirst du da nicht in diesen Leiden selber Gottes Liebe erkennen, die ihr Kind zu sich erziehen möchte? wirst du nicht in Liebe zu Gott dich gezogen fühlen, und so über dein früheres Leben dich heben, neu den Bund schließen mit Gott, den Weg der Th’schuwoh betreten, und — mit allem dir noch Gebliebenen — mit allem dir wieder zu Gewährenden — aus den Leiden erstehen zum neuen, kräftigreinen, Gott geweiheten Leben?? — Und die Kraft zu solchem Leben? sie erwächst nirgends so als im Leiden. Gerade weil Leiden den Menschen ganz auf sich selbst, in sich selbst zurückdrängen, weil er jeder äußeren Hülfsmittel beraubt ist, wird jeder Funke von Kraft, der in ihm selber schlummert, herausgefordert, wird alles in der Menschenpersönlichkeit aufgeweckt, was ihr ohne äußere Stütze Kraft und Selbständigkeit, und Ausdauer und Mut und Selbstbeherrschung zu gewähren vermag — — in der äußern Armut und Niedrigkeit wird aller innerer Reichtum und Adel in die Schranken gerufen und im Kampfe genährt und gestärkt, — und wen Leiden belehren, dem bringen sie auch Kraft die Lehre fortan zu erfüllen und thatkräftig zu verwirklichen.

§. 85. Also sind Leiden Läuterung des inneren Menschen, und jeder Schmerz, jede Thräne Quelle der Reinheit und Weihe. Also spricht durch Leiden dein Vater zu dir; — und wohl dir, wenn du merkst auf seine Stimme; wohl dir, wenn du in kleinem und großem Leiden, mit dem dein Vater an einem Teil deines Lebensgebäudes rüttelt, die Mahnung erkennst: zu untersuchen deines Lebens Grund, zu prüfen deines Lebens Richtung, Schadhaftes zu erkennen und von Erkenntnis zur Besserung rüstig zu schreiten.

§. 86. Bist du aber der Glückliche, daß du rein von Fehlern dein Angesicht zu Gott emporheben kannst, — hast nie in Gottvergessenem Übermut deine Abhängigkeit vergessen —: auch dann sendet Gott dir Leiden, — wenn nicht "‏לעבנתך"‎ da du deine Abhängigkeit ja nie vergessen, — wohl aber "‏"לנסתך‎ ‎dich prüfend zu heben, und dein Leben zu vollenden.

§. 87. Zu heben: denn, wie dem Sünder Reinheit wird durch Leiden, dem Schwachen Stärke, also wird dem Reinen größere Reinheit, dem Starken gestählter noch die Kraft. Denn die Kraft, die nicht geübt wird, erschlummert, und nur aus Übung geht sie neu gestärkt hervor. Also auch des Geistes und des Herzens Kraft wächst nur durch Übung; — und des Geistes und Herzens Übungsschule ist — das Leiden.

§. 88. Zu vollenden: denn Doppelseite hat die Lebensaufgabe, Freud’ und Leid, Schmerz und Wonne, Glück und Not; nur wer sie beide gelöst, hat seines Lebens Aufgabe ganz erfüllt; denn jede Seite hat ihre eignen, gleich schweren, und nur in ihr zu erfüllenden Pflichten. — Wirst du darum murren über Prüfungsleiden, Reiner? Ist dein ganzes Leben nicht Aufgabe nur? Dein äußeres Leben, wie es sich dir auch gestalte, nicht nur veränderter Schauplatz für deine Pflichterfüllung Gott zu dienen? Und willst du deinem Herrn vorschreiben, an welchem Platz Er deine Dienste fordere? Giebt’s nicht auch fürs Unglück Pflichten, und nur im Unglück zu übende Pflichten? Ist dein Leben nicht nur halb erfüllt, wenn du nur Freuden, nicht auch Leiden hast? Ja, wenn du dein Leben wahrhaft als zu lösende Aufgabe begreifst, und nur als solche es achtest, — wirst du da Unterschied wissen zwischen Freude und Leid, zwischen Glück und Unglück? — wirst du nicht gleich heiter beidem entgegengehen, in jeglichem nur die Aufgabe erkennend, die Gott dir setzt??§. 89. Das ist auch der Weisen Ausspruch: Siehst du, daß Leiden dich überkommen, prüfe dein Leben. — Hast du geprüft und nichts Tadelswertes gefunden, so frage dich, ob du denn auch das Bild des reinen, guten Lebens aus der Thauroh vollendet kennest, daß, damit vergleichend, du das deinige prüfest. Hast du’s erlernt und das deinige geprüft und doch nichts gefunden, — dann Heil dir! dann wisse, daß es Leiden der Liebe sind, die Gott dir sendet weil Er dich liebt, weil du Ihn liebst, deine Gottesliebe zu stählen, prüfend dich zu heben, zu vollenden, und vollendet dich als Muster aufzustellen. Denn also heißt es: Wen Gott liebt, dem sendet Er Leiden, und wie ein Vater erstrebt er sein Kind. Und ferner heißt es ja: Wer sein Leben als Gottes Aufgabe achtet, kennt nicht Unglück. ('‏ברכו‎ 5, a. u. ‏קהלת‎ 8, 5.)

§. 90. Wohlan denn, merke auf dein Geschick! durch dasselbe spricht Gott zu dir Und wie du im Süßen, dankend, Lebensaufgabe erkennst, also erkenne sie, dankend, auch im Bittern; und sobald dich ein Leiden überkommt, das sonst Menschen trübt und niederschlägt, — mit wundem Herzen, — mit der Thräne im Auge, — richte dich auf, Mensch-Jissroel! tritt heiter hin zu Gott und sprich: "‏ברוך וכו' דין האמת" "gesegnet, d. i. erfüllt werde dein Wille, wahrhafter Richter der Menschen," — heiter, im Bewußtsein, auch durch dies gottergebene Hinnehmen und Beherzigen des Leidens Gott zu dienen, und darin Jissroels Beruf zu erfüllen. (‏א"ח‎ 222.)

§. 91. Aber nicht nur dem Einzelnen sind Leiden eine Schule der Erziehung; auch Völker verdanken, und vor Allen du, Jissroel verdankst dem Leiden die ganze Größe deiner Vergangenheit, lösest deine große Volksaufgabe auch in Leiden, und sollst durch Leiden zu deiner Zukunft erzogen werden. Darum, Sohn und Tochter Jissroels, blicket nicht nur aufs eigene Geschick, habt ein Auge und Herz auch für das Leidensgeschick des ganzen Hauses Jaakauw, dem ihr angehört; ist’s ja zum Begreifen und Beherzigen solcher Gesamtleidenserziehung, daß zunächst unser Thaurohwort hier auffordert. Begreifet sie, beherziget sie. Sehet diese tausendjährige Erziehungs- und Prüfungs-Schule der Golußleiden Jissroels! Jedes Blatt dieser mit Thränen geschriebenen Geschichte zeigt Jissroel seine Winzigkeit und Größe, Gottes Allmacht und Liebe, lehrt Gott fürchten und Ihm vertrauen, lehrt abstreifen Besitz- und Genuß-Vergötterung und hinflüchten zum Alleinen und zur Erfüllung Seines in Thauroh geoffenbarten Willens. Begreifet so euer Gesamtgeschick, beherziget es so, und löset heiter eure Aufgabe darin. Durchdringt euch dann noch der Gedanke, wie auch dieses Gesamtleiden, diese zweite Wüstenführung, auch nicht nur "‏לענות" Erziehung, sondern zugleich auch "‏לנסות" prüfendes Hervorheben sei, in Jissroels Geschick und Leben ein Denkmal aufzustellen für Gotteswaltung und Gotteswillen und Menschenberuf —: o, so wird freudig das Herz euch schlagen, werdet euch freuen dein Hause Jaakauws geboren zu sein mit allem Herben, das diese Bestimmung heischt, — und werdet auch für dieses Herbe Dank, freudigen Dank zollen dem treuen Erzieher und Prüfer im Himmel. —