TESCHUWO

Lasst uns unser Herz in unsere Hände nehmen, Um es emporzurichten zu Gott im Himmel.
Klagelieder 3, 41.

Nirgends zeigt sich der Unterschied zwischen der jüdischen Mentalität und derjenigen der andern Völker deutlicher als in der Art, wie wir und wie sie das Neujahrsfest feiern. Mit einem Scherzwort auf den Lippen, den Becher in der Hand, so treten die Menschen, in deren Mitte wir wohnen, in ein neues Jahr ein. Es ist, als ob ihnen das Wort des alten Dichters vorschwebt: Carpe diem! Geniesse das Leben! Ganz anders wir Israeliten. Mit ernsten Gedanken erfüllt uns die Jahreswende. In unsern Gotteshäusern ziehen wir das Sargenes, die Sterbekleider an, die eine stumme, aber eindringliche Sprache reden, und der Schofar tönt an unser Ohr als ein Weckruf unseres himmlischen Vaters, der uns an unsere Pflicht mahnt, die oft vernachlässigte, und uns auffordert, die kurze, auf Erden uns zugemessene Zeit zu benützen, um Gutes zu tun, so lange Er uns Leben, Kraft und Gesundheit schenkt.

Ein neues Jahr des Daseins beginnt. Was wird es uns bringen? Dies ist die Frage, die uns alle bewegt. Unsere Schrifterklärer werden nicht müde, sie in unzähligen Formen zu variieren.
Es erhält jemand, so sagt einer von ihnen, einen Brief mit einem fremdartigen Siegel. Unruhig und besorgt prüft er ihn, ehe er ihn öffnet. Was mag der Brief enthalten? Gute oder böse Kunde, Mitteilung von Freud oder Leid? Und da er ihn geöffnet hat, starren ihm geheimnisvolle Zeichen entgegen, die er nicht lesen kann, die er nicht zu entziffern versteht. Ist nicht das neue Jahr ein solcher Brief? Zagend stehen wir am Anfang der neuen Zeit. Was birgt sie in ihrem Schosse? Gutes oder Böses, Heil oder Unheil? Wir können die geheimnisvolle Schrift nicht lesen, nur das eine wissen wir, „die Schrift ist die Schrift Gottes“, der über unser Schicksal entscheidet.

Dunkel liegt die Zukunft vor uns. Was aber können wir tun, damit wir ihr vertrauensvoll entgegenblicken dürfen?

„Wehe dem, der dahingeht mit seiner Last,“ so sagt einer der Weisen des Talmud. Was meint er damit? Da ist ein Steg, der über ein tiefes, reissendes Gewässer führt. Diesen Steg müssen wir alle beschreiten. Werden wir glücklich hinüber kommen? Werden wir das jenseitige Ufer erreichen? Werden wir weiterleben oder abberufen werden? Schmal ist der Steg und ohne Geländer, gefährlich ist der Weg. Heil dem, der festen, aufrechten Ganges, ruhigen Herzens, im Bewusstsein der erfüllten Pflicht ihn beschreitet. Doch angstvoll geht derjenige, der eine drückende Last auf seinen Schultern trägt. Je schwerer die Last, umso gefahrvoller der Weg, um so grösser die Furcht, dass das Gewicht ihn herabzieht, dass er ausgleitet und stürzt. Die Last auf unsern Schultern, das sind unsere Sünden und Vergehungen. Werfen wir sie ab, die Last unserer Verschuldung, und ruhiger und zuversichtlicher können wir der Zukunft entgegen gehen. So mahnen uns die heiligen Tage, ernst und streng mit uns ins Gericht zu gehen und reuig zu Gott zurückzukehren, ein Ende zu machen mit unserm sündhaften Lebenswandel und durch Teschuwo, durch Umkehr zu Gott die Verzeihung des Allmächtigen zu erlangen. Angstvoll fragen wir uns, was Gott wohl einschreiben wird auf das Blatt des neuen Lebensjahres, das Er uns schenkt. Nun, es hängt von uns ab. „Umkehr, Gebet und Wohltätigkeit wenden ab das böse Verhängnis.“ Schreiben wir auf unser neues Lebensblatt unsere guten Vorsätze, unsere reinen Absichten, und Gott wird uns erhören und uns die Kraft geben, sie auszuführen.
Wie müssen wir dem Allmächtigen dafür dankbar sein, dass Er in diesen heiligen Tagen uns den Weg zur Rückkehr weist. Wer wäre so gut und edel, dass er nicht nötig hätte, sich zu bessern? Wer hätte das Recht, mit sich zufrieden zu sein? Wer hätte nicht Ursache, Reue zu empfinden über so manches, was er getan, über so vieles, was er unterlassen?

Es ist aber auch niemand ausgeschlossen von der Rückkehr „Sei kein Bösewicht vor dir selbst.“ Halte dich nicht für zu schlecht, um den Weg der Umkehr zu beschreiten; Gottes Vaterarme sind einem jeden geöffnet, der reuig zu Ihm zurückkehrt.

Wie oft sagen wir in diesen heiligen Tagen die Worte: „Allgütiger, Allgütiger“, und rufen den Gottesnamen zweimal hintereinander an. Warum zweimal? Raschi sagt es uns, aber schwer verständlich sind seine Worte. „Gott ist der gleiche,“ so meint er, „ehe wir gesündigt, und der gleiche, nachdem wir gesündigt haben.“ Ein tiefer Sinn liegt in dieser Bemerkung. Ein irdischer König darf schwere Beleidigungen nicht vergeben, weil sonst seine Autorität leiden würde. Gottes Autorität aber leidet nicht, wenn Er uns verzeiht. Er wird nicht grösser, wenn wir gut sind, und bleibt nicht minder gross, wenn wir uns gegen seine Gebote verfehlen. Vergib uns doch, Allmächtiger, so rufen wir daher aus, denn Du kannst es, bleibst Du doch der gleiche grosse, gütige Gott, auch wenn wir gegen deinen heiligen Willen gefrevelt haben. Du willst ja nur unser Bestes und unser Glück. So sieh auf unsere Reue und unsern Schmerz, blicke auf die guten Vorsätze, die wir fassen, und nimm unsere Busse an.

Freilich liegt auch ein anderer Gedanke nahe. Wir berufen uns so gerne zu unserer Entschuldigung auf das Milieu, in dem wir uns befinden, auf die Zeit, in der wir leben, und die der Gottesfurcht nicht gerade günstig ist. Die Zeiten, so sagt man, haben sich geändert, und gar schwer ist es heute, die Gebote der Religion zu erfüllen. Aber in allem Wechsel der Zeiten ist Gott der gleiche geblieben, der gleiche, „ehe und nachdem wir gesündigt“. Er hat sich nicht geändert. Der alte Gott lebt auch in der neuen Zeit, und ewig und unveränderlich bleibt sein Gesetz. Nicht nach den schwankenden Anschauungen der Menschen, nicht nach den Ideen der Zeit, die dem Wechsel unterworfen sind, wollen wir uns richten, sondern in der Thora, dem ewigen Worte Gottes, wollen wir das Leitziel unseres Lebens aufs neue suchen und finden, zu Gott wieder emporrichten unser Herz.

Wie gross der Wert und die Bedeutung der Teschuwo ist, geht wohl am besten aus einem eigentümlichen Ausspruch unserer Weisen hervor. Gott wollte die Welt schaffen ohne Teschuwo, aber sie hatte keinen Bestand. Da schuf Gott die Teschuwo, und nun erst konnte die Welt bestehen.

Einer unserer Erklärer macht uns diesen Satz mit einem Gleichnis verständlich. Es war einmal eine Fabrik gegründet worden, welche allerlei Geräte herstellte. Vorzügliche Maschinen, ausgezeichnetes Rohmaterial, geschulte Arbeiter, tüchtige Leiter und Werkführer stellten den Erfolg, wie es schien, ausser Frage. Dennoch zeigte es sich zur allgemeinen Überraschung am Ende des Jahres, dass die Fabrik mit einer bedeutenden Unterbilanz gearbeitet hatte. Es stellte sich heraus, dass es unter den Geräten überaus viel Abfall gab, zahlreiche Gegenstände, die brüchig, fehlerhaft und unbrauchbar waren. Da kam der Besitzer der Fabrik zu dem Entschluss, das Unternehmen eingehen zu lassen, es sei denn, dass sich für den Abfall auch eine Verwendung finde, und die schadhaften Geräte wieder nutzbar gemacht und dem Gebrauche zugeführt werden könnten. Die Fabrik in diesem Gleichnis ist die Welt. Gott hat sie geschaffen, damit die Menschen Ihm in Freiheit dienen und dadurch glücklich werden. Doch es gab und gibt in der Menschheit zu viel Abfall und Sünde, Leichtsinn und Genußsucht, Falschheit und Gottlosigkeit. Der Bestand der Welt war gefährdet. Da schuf Gott die Teschuwo und gab damit den Menschen, die ihre Ideale verloren haben, die Möglichkeit, sie wieder zu gewinnen, und gab ihnen die Kraft, aus niedriger Gesinnung und sittlichem Verderben sich wieder zur Reinheit und zu einem Gott wohlgefälligen Leben empor zu arbeiten. „Wir wollen unser Herz in unsere Hände nehmen, zu Gott im Himmel.“
Wie oft hört heute der Gesetzestreue den Vorwurf, er gebe zu viel auf die Äusserlichkeiten der Religion. Nicht auf diese, sondern auf den Kern komme es an, das seien die Gedanken der Sittlichkeit, der Heiligkeit, des Edlen und Guten, die das Wesen der Religion ausmachen. Aber mit den Worten des grossen Dichters können wir erwidern: „Natur ist weder Kern noch Schale, alles ist sie mit einem Male.“ Was für die Natur gilt, gilt auch für die Gotteslehre. Auch die scheinbar äusserlichen Gebote führen zur Verinnerlichung der Religion und machen das Leben zu einem Dienste Gottes. Die Vorschriften unserer Thora, die unser ganzes Dasein umhegen und auf Schritt und Tritt uns begleiten, tragen zur Hei¬ligung des Lebens bei, zu der Erkenntnis, dass wir nicht auf Erden sind, um nach dem Belieben unseres Herzens zu wandeln, dass diese Welt nicht ein Ort des Vergnügens und der Lust ist, sondern dass wir eine Aufgabe auf Erden haben, die Pflicht, nach Gottes heiligem Willen zu leben und in dieser Welt, in der wir nur Fremdlinge sind, auf ein höheres Dasein uns vorzubereiten.

Aber werden nicht gerade die heiligsten Tage des Jahres von vielen unserer Glaubensgenossen rein äusserlich erfasst? Wohl hört man den Schofarschall am Roschhaschana, aber man vernimmt ihn ohne Ergriffenheit. Der Ton dringt ans Ohr, aber nicht ins Herz, und die wenigsten geben sich Rechenschaft über die Bedeutung dieses Rufes, den Gott an der Wende des neuen Jahres an uns ergehen lässt. Wohl sagt man am Jom Hakipurim die vorgeschriebenen Gebete, aber man bleibt ungerührt; wohl klopft man an die Brust, weil es auch der Nachbar tut, aber das Herz wird nicht weich und öffnet sich nicht. Man fastet auch an dem heiligen Tage, spähend, ob der Zeiger der Uhr bald das Ende der Kasteiung verkünde. Aber die innere Bedeutung des hohen Festes kommt nur den wenigsten zum Bewusstsein; ungeläutert und ungebessert lässt man die heiligen Stunden scheiden, die Gott zu unserer Veredelung und Erhebung eingesetzt hat, und am Tage nach Jom Kippur sind wir die gleichen Sünder wie zuvor. Es fehlt eben die Teschuwo, die reuige Rückkehr und Umkehr zu Gott. Wenn diese aber fehlt, so fehlt alles, so haben die von Gott eingesetzten festlichen Tage ihre Bestimmung verfehlt. „Wir wollen unser Herz in unsere Hände nehmen, um es emporzurichten zu Gott im Himmel!“ Einer der alten Erklärer sagt uns hiezu ein Gleichnis.

Ein Landmann hörte einst, wie im Garten seines Nachbars eine Nachtigall mit süssen, schmelzenden Tönen ihr Lied sang. Er bat den Nachbar, ihm die Nachtigall zu verkaufen. Aber als sie endlich handelseinig geworden waren, war die Nachtigall längst davongeflogen und liess ihr Lied in andern Gärten ertönen. Wir möchten gerne unser Herz zu Gott erheben, aber sind wir denn noch Herren und Meister unseres Herzens? Ach, das Herz von gar vielen ist verankert in ihren Geschäften, ist unlösbar verknüpft und verwoben mit allen Eitelkeiten und Torheiten der Welt. Erst müssen wir wieder Herren unseres Herzens werden, erst wieder Macht gewinnen über unser Inneres. Erst müssen wir erkennen, dass es unser nicht würdig ist, unser Herz zu hängen an Geld und Gut, das wir einst zurücklassen werden in unserer Todesstunde, an sinnliche Vergnügungen und Zerstreuungen, die uns wertlos erscheinen werden, wenn wir von hinnen gehen. Erst müssen wir einsehen, dass wir auf Erden sind, um gut und fromm zu sein und unserm himmlischen Vater zu gefallen, dann erst, wenn wir unser Herz in unsere Hände genommen haben, dann erst können wir es erheben zu unserm Gott im Himmel!

Ein neues Jahr beginnt. Wiederum ruft der himmlische Vater seine Kinder zur Teschuwo auf. Wie oft wir diesen Ruf noch vernehmen werden, wissen wir nicht. Lassen wir ihn dieses Mal nicht ungehört verhallen; wir wollen nicht bloss Vorsätze zum Guten fassen, sondern sie auch ausführen. Wir wollen besser und reiner werden, wollen wieder Israeliten sein, wie es unsere Väter waren, die ihren Weg Haschems opferfreudig liebten mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele, mit ganzer Kraft. Der Allgütige aber schaue auf unsere Teschuwo, Er erhöre unsere Gebete zum Guten und segne uns, ganz Israel und die ganze Menschheit mit einem Jahre des Glückes und des Friedens!