Eine unbekannte jüdische Sekte

Von Louis Ginzberg.

l.

»lsrael wanderte nicht eher ins Exil, als es in vierundzwanzig Sekten zerfiel«. Abgesehen von der Zahl vierundzwanzig, die man wohl als eine haggadische Lizenz betrachten darf, enthält dieser Ausspruch R. Jochanans (Jer. Sanhedr. IX, 29c.) eine tiefe Wahrheit. Der Untergang des jüdischen Staates ist nicht allein der Eroberungspolitik der Römer zuzuschreiben, sondern auch dem Parteihader und Sektenhass der Juden, die ihren Staat aus den Fugen hoben, lange bevor ein römischer Soldat den Boden Palästinas betrat. Die Kämpfe zwischen den Pharisäern und Sadduzäern sind die einzigen sicheren Daten in der inneren jüdischen Geschichte während des Jahrhunderts, welches der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 vorausging. Die Gegensätze aber, welche diese Kämpfe heraufbeschworen, sind uns äußerst mangelhaft bekannt. Die rabbinische Tradition sieht im Sadduzäismus nichts anderes als einen Abfall von der wahren Religion, deren Träger die Pharisäer waren. Für den modernen Historiker dagegen ist der Gegensatz zwischen Pharisäern und Sadduzäern der zwischen einer kirchlichen Partei und der weltlichen Macht. Da nun der Talmud und Josephus, bisher die einzigen Quellen für unsere Kenntnis des Parteiwesens, pharisäische Tendenzen verfolgen, so würden ihre Angaben auch dann nicht für eine wahre Beurteilung der Parteiverhältnisse ausreichen, wenn sie bestimmter und reichhaltiger wären als sie es sind. »Audiatur et altera pars« ist die erste Bedingung für das richtige Urteil des Richters wie des Historikers, und so lange man diese Bedingung nicht erfüllen kann, muss man mit seinem Urteil zurückhalten.
Sind unsere Kenntnisse der drei grossen Sekten, der Pharisäer, Sadduzäer und Essäer als mangelhaft zu bezeichnen, so sind uns die vielen Unter- und Nebenströmungen derselben nicht einmal dem Namen nach bekannt. Die Anhänger dieser Richtungen erscheinen in der talmudischen Literatur unter den kollektiven Bezeichnungen ‏מינים‎ oder ‏,חצונים‎ so daß uns jede Möglichkeit genommen ist, die lndividualität dieser verschiedenen Richtungen kennen zu lernen. Nichts wäre geeigneter unsere Unkenntnis des Sektenwesens zu veranschaulichen, als wenn wenigstens einige zusammen-hängende Blätter aus der Hand eines alten Sektierers zu uns gelangten.
Diese Überraschung ist uns nun in der Tat zuteil geworden. Die Genisah zu Kairo, diese große Fundgrube literarischer Schätze, hat uns eine Schrift aufbewahrt, in der wir zum ersten Male die Stimme eines Sektierers ver- nehmen, und die von nun an zuerst gehört werden mus, bevor man über das jüdische Sektiererwesen sprechen will.
Professor Schechter, der glückliche Entdecker dieses Schatzes, nennt diese Schrift: »a Zadokite Work« und gibt in der Einleitung zu derselben seine Gründe für diese Benennung.

Es bedarf wohl keines besonderen Scharfblickes, um zu sehen, dass das Hauptinteresse unserer Schrift um das Gesetz oder, genauer gesagt, um dessen richtige Auslegung konzentriert ist. Die Sekte führt ihren Ursprung auf »den Erklärer der Thorah« — 7, 18 — דורש התירה zurück und die höchste Ehrenbezeichnung, die sie für ihre Führer kennt ist ‏מורה צדק‎ »der die gesetzlichen Entscheidungen der Wahrheit gemäß trifft«. Das erste Programm der Sekte — 6, ‏ 11ff. — verpflichtet die Mitglieder »den Tempel nicht zu betreten, solange der Dienst darin nicht gemäß den Anweisungen der Thorah stattfinden; sich fern zu halten von sündhaftem Besitz, sei es Gelübde, Verbanntes, Tempeleigentum oder Raub der Armen, Witwen und Waisen; zwischen rein und unrein zu unterscheiden, und ebenso zwischen heilig und profan; den Sabbath zu beobachten, wie es sich gehört, und die Feiertage wie den Fasttag — Versöhnungstag — zu begehen wie geboten ist«.
‎Das‎selbe lebhafte Interesse am Gesetz zeigt das zweite Programm, welches die Sekte nach ihrer Auswanderung aus‏ ‎Palästina bei ihrer Niederlassung in Damascus aufstellte;‏ ‎es verpflichtet die Mitglieder, die heiligen Abgaben ver‎tragsmäßig abzuheben, den Nächsten zu lieben wie sich‏ ‎selbst; die Armen, Bedürftigen und Proselyten zu unter‎stützen; den Frieden zu suchen; keine Blutschande zu‏ ‎begehen, gemäß dem Gesetze sich fern zu halten von den‏ ‎Huren; seinen Nächsten zurechtzuweisen, wie geboten‏ ‎ist, aber keine Feindschaft nachzutragen von einem Tage‏ ‎auf den andern, und sich fern zu halten von all den Un‎reinheiten gemäß ihren Vorschriften, so daß niemand seinen heiligen Geist verunreinige.‏ Auch für »die Bundesmitglieder« in Damascus ist,‏ ‎wie wir sehen, die genaue Beobachtung des Zeremonialgesetzes die Hauptsache, und wenn neben diesem auch zur Nächstenliebe und Armenversorgung ermahnt wird, so handelt es sich dabei nicht um den ethischen Gehalt dieser Vorschriften, sondern um deren praktischen Wert Nur durch engen und innigen Zusammenschluß der Mitglieder untereinander konnten sie auf die Verwirklichung ihres ldeals, die strenge Beobachtung des Gesetzes, hoffen, weswegen auch ganz besonders Liebe und Eintracht anempfohlen wird. Die Umschreibung des biblischen Gebotes der Nächstenliebe durch לאהוב איש את אחיהו‎ ist sehr charakteristisch; das biblische ‏רע‎ »Nächste« ist durch ‏אח‎ ersetzt; nicht die Liebe des Volksgenossen wird geboten, sondern »des Bundesbruders«. Während die Halachah in dieses Gebot der Nächstenliebe sogar den schlimmsten Verbrecher eingesschlossen wissen will, beginnt für unsere Sekte der Jude beim »Bundesbruder«. Bezeichnend für den Standpunkt der Sekte ist die Beschreibung »des sündhaften Besitzes« als etwas, dessen Gebrauch das Zeremonialgesetz‎ und nicht die Moral verbietet. Höchstwahrscheinlich enthält auch die weitere Beschreibung des »sündhaften Besitzes« Armen-,Wiwen- und Waisenraub eine Anspielung auf juridische Differenzen zwischen der Sekte und ihren Gegnern. Die »Bundesbrüder« verpflichteten sich, gemäß den Lehren der Sekte Recht zu sprechen und durch ihre — von ihrem Standpunkte! — gesetzesgemäßen Entscheidungen den Armen, Witwen und Waisen zu ihrem Rechte zu verhelfen. Das Erbrecht bildete bekanntlich einen wichtigen Punkt in den Differenzen zwischen den Zaddukäern und Pharisäern, die Gleichberechtigung der Töchter mit den Söhnen wäre nach Ansicht der letztern nichts Anderes als ein »Raub der Waisen«, während jene von ihrem Standpunkte aus nicht minder berechtigt waren, die Enterbung der Töchter mit denselben Worten zu bezeichnen. Auch beim Witwenraub haben wir wohl an eine iuridische Differenz zu denken; auf Simeon b. Schatach, die älteste Gestalt eines Pharisäers, der aus dem Dunkel der Überlieferung ein wenig konkreter hervortritt, werden in der rabbinischen Tradition einschneidende Veränderungen der ‏כתובה‎ zurückgeführt, und diese neue pharisäische Verordnung könnte von einem Gegner als Witwenraub bezeichnet werden, während die Pharisäer gerade die Verwerfung dieser Verordnung mit denselben Worten tadeln würden. Bei den vielen rechtlichen Differenzen zwischen den Zaddukäern und Pharisäern kann die Anklage des Armenraubes nicht besonders ausfallen; eine gerichtliche Entscheidung gegen die Halachah der eigenen Partei war deren Anhängen ohne weiteres ein Armenraub.
Sehr bezeichnend für die gesetzliche Färbung, die unsere Schrift mancher moralischen Lehre gibt, ist die Verarbeitung der apokryphen Vision Levis — 4, 15 ff. — von den drei Netzen des Beliaals. Der benutzte Text spricht ganz deutlich von den drei Kardinalsünden: Unzucht, unredliche Besitzerwerbung und Verunreinigung des Tempels,‏ von denen nur die letzte eine zeremonielle ist, und auch diese nur im beschränkten Sinne, da den Sündern nicht etwa die Übertretung eines bestimmten Reinheitsgesetzes vorgeworfen wird, sondern die geringschätzige Behandlung des Tempels, dem sie die ihm zukommende Hochachtung versagen. Dagegen heißt es in unserer Schrift: »Die Erbauer der Wand« werden von zwei Netzen des Beliaals gefangen; sie leben in polygamischer Ehe, was gemäß den Vorschriften der Thorah — natürlich nach der Auslegung unserer Sekte! — verboten ist und verunreinigen den Tempel, indem sie den Umgang mit der ‏זבה‎ gestatten und so im Stande der Unreinheit das Heiligtum betreten. Die ethisch-religiöse Mahnrede des Testaments Levi wird in unserer Schrift benutzt, um den gesetzlichen Standpunkt der Sekte zu rechtfertigen! Unter dem Netz der Unzucht, wird in unserer Schrift gelehrt, verstand Levi »die Polygamie und Nichtenehe«, welche die Gegner der Sekte gestatten und das Netz der Tempelverunreinigung deutet auf deren erleichternden Standpunkt in bestimmten Fragen von ‏Blutfluß.
Bei dieser streng gesetzlichen Richtung unserer Schrift kann es niemanden befremden, wenn mehr als die Hälfte davon den minutiösen Vorschriften über Sabbath, Reinheit und andere religiöse Zermonien gewidmet ist. An diesen Dingen ist dem Verfasser am meisten gelegen, und wenn auch manche gesetzliche Vorschrift darin höchst wahrscheinlich späterer Zusatz ist, so ist doch nicht daran zu zweifeln, dass die Halachah einen wesentlichen oder sogar den wesentlichsten Bestandteil der Urschrift bildete. Neue theologische Lehren sind demnach kaum in dieser Schrift von überwiegend gesetzlichem Charakter zu erwarten, wohl aber eine Stellungnahme zu den theologischen Tagesfragen. in einer Zeit, in der Parteienhaß und Sektenwesen hohe Wogen schlugen, konnte keine polemische Schrift entstehen, welche die Differenzen zwischen den Zaddukäern und Pharisäern unberücksichtigt ließ. Und in der Tat gibt uns unsere Schrift eine nicht misszuverstehende Antwort auf die Frage, wie sie sich zu den theologischen Differenzen der genannten Parteien verhält.
Josephus, die urchristlichen Schriften und die rabbinischen Quellen kennen folgende dogmatische Streitigkeiten zwischen den Zaddukäern und den Pharisäern. Die »Pharisäesr« sagt Josephus, »haben den Glauben, daß es . . . unter der Erde Strafen und Belohnungen gebe für diejenigen Seelen, welche im Leben der Tugend oder Schlechtigkeit sich hingaben, und dass den einen ewiges Gefängnis bestimmt sei, den andern aber die Möglichkeit, ins Leben zurückzukehren, während die Zaddukäer behaupten, die Seelen vergehen . . . . zugleich mit den Körpern«. Man braucht nicht lange in unserer Schrift herumzusuchen, um festzustellen, welche von diesen beiden Ansichten sie vertritt, denn schon am Anfang, 2, 2 ff., wird den »Bundesbrüdern« verkündet, daß »der Weg der Sünder« zu den Plageengeln führe, welche Gottes Strafe an den Verächtern des Gesetzes vollziehen. Auch bezüglich der Geister und Engel, deren Existenz von den Pharisäern bejaht, von den Zaddukäern aber verneint wird, stimmt unsere Schritt mit den ersteren überein. Neben den erwähnten »Plageengeln« werden in derselben erwähnt »die Wachenden עירם‎ - 2, 18 -, die infolge ihrer Sünden vom Himmel fielen und die »Heiligen des Allerhöchsten« — 20, 8 — die die Sünder verfluchen. Eine bedeutende Rolle spielt ferner der — böse — Engel Beliaal — 82 und a. a. O. — und seine Geister — 12, 2 —, die den Menschen zur Sünde verleiten. Als eine weitere Differenz zwischen den erwähnten Sekten bezeichnet Josephus die Lehre von der göttlichen Vorsehung, durch die nach Ansicht der Pharisäer alles vollbracht wird, während die Zaddukäer behaupten, dass das Gute und das Böse ausschlieslich in der Menschen Wahl stehe. Nun wird in unserer Schrift kein Dogma stärker und entschiedener betont als die göttliche Vorsehung, indem mit beredten Worten — 2, 7 ff. — darauf hingewiesen wird, dass Gott am Uranfang das Gute und das Böse vorausgesehen und vorausbestimmt hat. Falls die Angabe der Kirchenväter, für die übrigens auch in der rabbinischen Literatur eine Bestätigung sich zu finden scheint, auf Wahrheit beruht, dass die Zaddukäer, im Gegensatz zu den Pharisäern, nur den Pentateuch als autoritativ anerkannten, die prophetischen Schriften aber nicht, dann hätten wir einen weiteren Punkt, in dem unsere Schrift mit den Pharisäern übereinstimmt. Denn nicht allein basiert ein wesentlicher Teil davon auf Zitaten aus den phrophetischen Schriften, sondern es wird ausdrücklich hervorgehoben — 7, 17 —, daß Israel deswegen ins Exil ging, weil es die Worte der Propheten verachtete.
Unsere Untersuchung über den dogmatischen Standpunkt unserer Schritt ergab dieselben Resultate wie die über ihre Halachah. Wir haben im vorigen Abschnitte nicht allein nachgewiesen, daß diese Halachah im wesentlichen mit der pharisäischen übereinstimmt, sondern dass unsere Schritt beinahe nur solche religiöse Vorschriften erwähnt, welche der talmudischen Tradition als »rabbinisch« gelten, und ebenso zeigte sich eine volle Übereinstimmung mit der Theologie der Pharisäer in all den Punkten, in denen diese sich von den Zaddukäern unterschieden. Das Interesse an der minutiösen Beobachtung des Gesetzes, an seiner »Umzäunung« und Erweiterung, worin unsere Schrift mit den Pharisäern übereinstimmt, wäre ohne einen entsprechenden theolgischen Hintergrund kaum denkbar. Strafe und Belohnung, Gottes Kenntnisnahme von jeder menschlichen Handlung und sein Eingriff in das Leben des Einzelnen und das der Nationen durch Engel und Geister sind die nötigen Vorbedingungen für die Auffassung des Lebens als eines »ununterbrochenen Gottesdienstes«. Die Zaddukäer, die ganz im Diesseits und seinen Freuden wurzelten, hatten mit dem geschriebenen Gesetze mehr als genug und empfanden keine Lust, das Gesetz auszubauen. Dass sie in manchen gesetzlichen Fragen den Pharisäern gegenüber einen erschwerendern Standpunkt vertraten, ist wohl möglich, ja sogar wahrscheinlich — sie waren zu wenig um die Erhaltung des Gesetzes besorgt, um die von den Zeitumständen kategorisch verlangten Modifikationen desselben vorzunehmen —, aber sie deswegen zu Eiferern des Gesetzes und ihre Gegner zu »Forschrittlern« zu stempeln, heißt einfach die Tatsachen auf den Kopf stellen. Grösserse Eiferer für das Gesetz als die Pharisäer lassen sich kaum denken, und daher kann auch unsere Sekte, die genau dieselbe Tendenz verrät nur als eine Abart des Pharisäismus angesehen werden. Die Übereinstimmung zwischen unserer Sekte und den Pharisäern in den erwähnten vier dogmatischen Lehren ist eine weitere Bestätigung des im vorigen Abschnitte gewonnenen Resultates von dem pharisäischen Charakter unserer Schritt.

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Vorsehung, Lohn und Strafe, der Glaube an die Engel- und Geisterwelt, so wichtig sie auch für die Dogmatik des Pharisäismus sind, erschöpfen nicht die pharisäische Theologie. Wir müssen daher, um den theologischen Standpunkt unserer Schrift genauer kennen zu lernen, ihre Anschauungen über Gott, Thorah, Messias u. dgl. m. näher untersuchen.
Der Monotheismus wird zwar nirgends besonders hervorgehoben, aber ohne weiteres vorausgesetzt. Die Gegner werden der schlimmsten Sünden, moralischer wie relgiöser Natur, bezichtigt, nur nicht des Polytheismus, weil dieser unter den Juden nicht mehr existierte. Sogar in der Geschichtsbetrachtung unserer Schrift wird der Götzendienst in der alten Geschichte Israels, weil für die Gegenwart gegenstandslos, übergangen. Nur an einer Stelle — 20, 9 — wird den abgefallenen Bundesbrüdern nachgesagt, dass sie »Götzen auf ihre Herzen legten« ‏שמו גלולים על לבם, und auch an dieser Stelle liegt, wie der Zusammenhang zeigt, die Verwendung einer biblischen Phrase — Ezechiel XIV, 3 ‏העלו גלוליהם על לבם‎ — in uneigentlichem Sinne vor. Der Abfall von der wahren Lehre der Sekte wird den Sündern als Götzendienst angerechnet. Bezeichnend für die transzendentale Auffassung des Gottesbegriffs ist die außerordentliche Scheu vor dem Tetragrammaton, das in der ganzen Schrift, auch in Zitaten aus der Bibel fehlt. Ferner wird verboten, — 15,1 — bei irgend einer Benennung Gottes zu schwören, weil dies einer Profanierung Gottes gleichkommt. Gott ist so erhaben über alles Irdische und Weltliche, dass sein Name mit solchen Dingen nicht in Verbindung gebracht werden darf.
Von den Eigenschaften Gottes 2, 2 ff werden erwähnt: seine Weisheit, Güte und strafende Gewalt, dasselbe Trio, das in der rabbinischen Theologie als ‏הכמה מדת הדין מ' הרהטים:‎ erscheint. »Gott liebte Weisheit und Einsicht, stellte sie vor sich auf; Klugheit und Erkenntnis bedienen ihn. Langmut ist bei ihm und Fülle der Verzeihungen . . . aber auch gewaltige Macht und Zorn gar groß, die sich in Feuerflammen kund tun«. Es ist wohl kein Zufall, daß die Weisheit an der Spitze der göttlichen Attribute erscheint, denn mit den Worten »Gott liebte die Weisheit« soll gesagt sein, dass am Anfang alles Daseins die Weisheit da war, mittels welcher Gott alles leitet. Es ist sogar wahrscheinlich, dass unsere Schrift die Weisheit mit der Thorah identifiziert, wie schon Ben Sira tat, und viele nach ihm, wenigstens deutet darauf die Bezeichnung ‏תושיה‎ hin, das nach Ansicht des Talmud Soviel wie Thorah bedeutet. Die Art und Weise, wie von diesen drei Attributen gesprochen wird, legt die Vermutung nahe, dass für unseren Verfasser Weisheit, Güte und strafende Gewalt mehr als bloße Eigenschaften sind; Ausdrücke, wie »Weisheit er stellte vor sich hin« und »Langmut ist bei ihm«, erinnern sehr lebhaft an diese drei Hypostasen der Jüdisch-alexandrinischen Philosophie sowie der palästinensischen Theologie, und wir würden wohl nicht fehlgehen, wenn wir dieses Hypostasenanlehen auch in unserer Schrift voraussetzen.
Mit unverkennbarer Spitze gegen die Zaddukäer, die Leugner der göttlichen Vorsehung, wird — 2, 7 ff. — diese ganz besonders hervorgehoben. Und bevor sie erschaffen wurden — die Sünder — kannte er ihre Taten . . . . und er wußte die Jahre des Bestandes, die Zahl und genaue Periode alles dessen, was existiert, existiert hat und existieren wird. Für alle diese Zeiten ließ er solche erstehen, die er beim Namen nannte . . . . und durch seine Gesalbten tat er ihnen seinen heiligen Geist kund . ... »ja er benannte sie genau bei ihren Namen«.
‎Eine beinahe wörtliche Parallele zu dieser Stelle bildet Mechilta Bo. XV 19a. ‎Aus der Schrift ergibt sich, dass die Namen und Hand‎lungen der Gerechten, Gott bekannt sind, noch bevor diese‏ ‎erschaffen worden sind, denn so heißt es — Jeremiah 1, 5‏ ‎—: »Ehe ich dich im Mutterleibe bildete, habe ich dich‏ ‎erkannt.« Ebenso ergibt sich aus der Schrift, dass die Namen der Sünder bekannt sind — noch bevor sie erschaf‎fen worden sind —, denn so heißt es — Ps. LVIII. 4 —‏ »Abgewichen sind die Gesetzlosen vom Mutterschoße an, es irren vom Mutterleibe an die Lügenredner«. In unserer Schrift, wie in der Mechilta, wird betont, das die göttliche Vorsehung nicht allein über das Allgemeine, sondern sogar über das Einzelne sich erstreckt; Gott sah nicht allein das Gute und das Böse im Verlaufe der Geschichte voraus, sondern auch den einzelnen Frommen und den einzelnen Sünder. Die »Auserkorenen«, die Gott für alle Zeiten bestimmt hat, waren ihm als Individuen im Voraus bekannt, »er benannte sie genau«. Höchst lehrreich ist der Vergleich zwischen der starken Hervorhebung der göttlichen Vorsehung in unserer Schrift und der mit großem Nachdruck gelehrten Willensfreiheit bei Ben Sira. Einen uneingeschränkten Determinismus haben die Pharisäer nie gelehrt, und ebensowenig tut es unsere Schrift. »Alles ist von Gott vorherbestimmt, nur nicht die Gottesfurcht«. ‏הכל בידי שמים חוץ מיראת שמים ‎ist die prägnante Form, in welcher der‏ ‎Talmud die rabbinische Lehre von der göttlichen Vorsehung auf der einen Seite und der moralischen Verant‎wortung auf der anderen seite kleidet, und, wie wir aus‏ ‎Josephus erfahren, war dies auch der Standpunkt des‏ ‎Pharisäismus zu seiner Zeit. »Die Pharisäer«, sagt dieser, »lehren, das alles durch das Geschick — götiliche Vorsehung — vollbracht werde, aber es gefiel Gott, daß zum‏ ‎Willen des Geschickes der menschliche Wille hinzukomme‏ ‎mit Tugend oder Schlechtigkeit.« Wenn jedoch unsere Schrift‏ ‎die Vorsehung betont und Ben Sira die Willensfreiheit, so hat‏ ‎diese verschiedene Betonung ihren Grund in den verschie‎denen Zeitumständen. Ben Sira lebte in einer Zeit des sieg‎reichen Vordringens des Pharisäismus, daher die Warnung‏ ‎an die Vertreter dieser Richtung, ihre Vorsehungslehre‏ ‎nicht auf die Spitze zu treiben, da sonst die Willensfreiheit‏ ‎verschwände; unser Verfasser kämpft in erster Reihe ge‎gen die Zaddukäer, daher seine Polemik gegen die von‏ ‎diesen konsequent durchgeführte Lehre der Willensfreiheit,‏ ‎welche die göttliche Vorsehung ganz negiert.‏
‎Mit der Lehre der göttlichen Vorsehung hängt die Geschichtsbetrachtung unserer Schritt eng zusammen; sie gipfelt darin, daß Gott, der am Uranfang alles vorausgesehen hat, sich zu verschiedenen Zeit offenbart. So oft der Welt der Untergang droht wegen die Sündhaftigkeit ihrer Bewohner, erscheinen »die Berufenen« ‏,קריאי שם‎ »die Gott genau benannte« ‏ובפרוש שם שמותיהם‎ und die dann durch ihre fromme Taten das Menschengeschlecht vor vollständiger Vernichtung retten. Die Sünder erleiden ihre verdiente Strafe. die Nachkommen der Frommen füllen jedoch den Erdboden von neuem. Als die Sündhaftigkeit der gefallenen Engel und ihrer Nachkommen die Sintflut auf die Erde brachte, da war es Noah, der diese vor gänzlicher Vernichtung errettete. Unter den Nachkommen Noahs waren es wieder die Hamiten, welche infolge ihrer Sünden der Ausrottung anheimfielen. Aber das Bestehen der Welt wurde trotz der hamitischen Sündhaftigkeit nicht gefährdet. Denn damals erschien Abraham, der Freund Gottes, sowie Seine Nachkommen Isaak und Jakob, die durch ihre Beobachtung der Gebote, Freunde Gottes und Bundesgenossen des Allerhöchsten wurden. Die Nachkommen dieser frommen Männer jedoch folgten nicht dem ihnen von den Vätern gegeben Beispiele. ‏In‎ Ägypten, und besonders in der Wüste zeigte sich Israel widerspenstig und ungehorsam, aber Gott sandte das fromme Brüderpaar Moses und Aaron zur selben Zeit als Beliaal das Zaubererpaar Jochanah und seinen Bruder erstehen liess, um Israel zur Sünde zu verleiten. Jedoch auch Moses und Aarons Einfluss zum Guten dauerte nicht allzulange, denn kaum waren Josua, Elieser und die Ältesten tot, als auch Israel sich dem Götzendienst hingab, so dass die Thorah in der heiligen Lade während der Regierungszeiten der Richter und Könige verborgen blieb und Israel in solcher Unwissenheit des Gesetzes lebte, daß sogar ein so frommer König wie David in polygamischer Ehe lebte, ohne zu wissen, dass es in der Thorah verboten sei. Zur Strafe für ihre Sünden übergab Gott Israel dem Schwerte und das Land der Verwüstung; jedoch vernichtete er sie nicht ganz. Während der Herrschaft des judäischen Königs Joschijahu erstand Israel in der Person des Hohenpriesters Zadoq ein »wahrer Lehrer«, er fand das Buch der Thorah, das solange verborgen geblieben war. Als dann nach der Zerstörung des Tempels das Volk wieder auf Irrwege geriet und zur Strafe für seine sündhaften Taten von dem »Großkönig der Griechen« heimgesucht wurde, da vergaß Gott doch nicht seinen Bund mit den Vätern. In Damaskus, wohin der fromme Rest des Volkes sich aus Judäa geflüchtet hatte, erschien der der »Stern Jakobs«, der Erklärer der Thorah, der letzte große Führer, dessen Leben die einzige Richtschnur für das gesetzgemäße Leben ist und als solche bleiben wird bis zur Ankunft des Messias.

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Durch die göttliche Vorsehung, die sich um die Gesamtheit wie den Einzelnen kümmert, und die besonders das Geschick Israels nach einem festen Plane bestimmt hat, ist Gott dem Menschen sehr nahe gerückt. Zugleich aber finden wir in unserer Schrift die Tendenz, den Schöpfer so weit als möglich vom Geschöpfe fern zu halten. Daß Hypostasenspekulationen ihr nicht fremd sind, haben wir schon oben bemerkt, und derselben transzendentalen Tendenz entspringt — zum Teile wenigstens — auch die Angelologie, welche eine bedeutende Rolle im Lehrsystem der Sekte zu spielen scheint. Wir finden in unserer Schrift bestimmte Engelsgruppen sowie einzelne Gestalten von ihnen, die aus der Schaar der namenlosen himmlischen Wesen heraustreten und ein konkretes Gepräge erhalten. Die »Plageengel« [‏,מלאכי חבל[ה die an den Sündern das göttliche Strafgericht vollziehen, — 2, 6 — bilden eine Engelklasse, die auch in der rabbinischen und apokalyptischen Literatur häufig erwähnt wird. Es ist jedoch nicht ohne Interesse zu bemerken, dass von der im Buche Henoch herrschenden Vorstellung, wonach diese Engel zum Reiche des Bösen gehören, an dessen Spitze Satan steht, keine Spur in unserer Schrift zu finden ist. Diese Engel sind vielmehr vom Uranfange an von Gott bestimmt worden, um die Sünder zu strafen, und in der Ausführung ihres Amtes folgen sie nicht etwa Satan, sondern vollziehen den Willen Gottes. Wie nach der Lehre der Rabbinen Gehinnom zu den präexistierenden Schöpfungen gehört, so sind nach unserer Schrift auch die Plageengel, welche im Gehinnom an den Sündern die Strafe Gottes vollziehen, von Uranfang dazu bestimmt worden. Eine Engelklasse, die der rabbinischen Literatur ganz unbekannt ist, wohl aber bei den Apokalyptikern eine grosse Rolle spielt, sind die »Wachenden« ‏עירי שמים‎ — 2, 18 — die dadurch zum Falle kamen, das sie die Gebote Gottes nicht beobachteten. Dass unsere Schrift unter den »Wachenden« ausschliesslich die gefallenen Engel versteht, läßt sich mit Bestimmtheit nicht sagen, da die erwähnte Stelle, an der von dieser Engelklasse gesprochen wird, nur soviel aussagt, dass die gefallenen Engel zu den »Wachenden« gehörten, und nicht mehr. Im Buche Henoch wo diese Bezeichnung für die Engel häufig ist, steht es sowohl für diese bestimmte Klasse von ihnen als auch für die gefallenen Engel.
Die Engel erscheinen in unserer Schrift — 20, 8 — als »die Heiligen des Höchsten« und es wird von ihnen ausgesagt, daß sie den Bundesbrüchigen — der von der Lehre der Sekte abfällt — verfluchen. Im Testament Naphtali VIII, 6 heißt es: »Aber der das Gute nicht tut, dem werden Engel und Menschen fluchen«, so daß darüber kein Zweifel herrschen kann, dass unter »den Heiligen, die dem Sünder fluchen« die Engel zu verstehen sind. Freilich darf man sie nicht mit den oben erwähnten »Plageengeln« identifizieren, es sind vielmehr die »guten« Engel gemeint, die, obwohl sie sonst den Menschen freundlich geneigt sind, kein Mitleid mit dem Abtrünnigen haben, sondern ihm fluchen. Ähnlich wird im Buche Henoch gesagt: »Und siehe, er kommt mit Myriaden Heiligen, um Gericht zu halten«. Hier wie in unserer Schrift sind die »Heiligen« Zeugen des göttlichen Gerichts über den Einzelnen wie über die Gesamtheit.
Die wichtigste Auslassung unserer Schrift über die Stellung der Engel ist die Stelle 5, 17. Sie lautet: »Und in alten Zeiten standen Moses und Aaron auf durch den Fürsten der Lichtwesen, während Beliaal durch seine Tücke Jochanah und dessen Bruder erstehen ließ; dies geschah, als Israel zum ersten Male errettet wurde«.
‎Welcher Engel nun auch unter‏‏ ‎»dem Fürsten der Lichtwesen« zu verstehen sein möge, das‏ ‎steht fest, daß ihm eine ganz ungewöhnliche Bedeutung‏ ‎zuerkannt wird. Er ist es, der Moses und Aaron ihre Mission, die Erlösung Israels, verrichten lässt, und er ist ferner‏ ‎der Antipode Beliaals, des Herrschers des Bösen, also selbst‏ ‎der Herrscher des Guten. Der Gegensatz zwischen Michael‏ ‎und Satan-Beliaal in der rabbinischen und apokryphischen Literatur bildet zwar eine interessante Parallele zum‏ ‎Gegensatze zwischen den Fürsten der Lichtwesen und Be‎liaal. Aber sogar von Michael, diesem Schutzengel Israels, wird nur behauptet, daß er für seine Nation eintrete und ihr Fürsprecher bei Gott sei, aber nicht, dass er das Geschick Israels leite, wie es in unserer Schrift bezüglich des Fürsten der Lichtwesen vorausgesetzt zu werden scheint. Bei der Mission Moses denkt man in erster Reihe an die Offenbarung des Gesetzes, und, wenn es heißt, daß durch den Fürsten‎ der Lichtwesen Moses und Aaron erstanden, so scheint es, als wenn dieser Engel auch zugleich der Vermittler des Gesetzes war. Wir hätten darin eine, zweifelsohne häretiscne Lehre vor uns, denn das pharisäische Judentum hat die Offenbarung nie anders angesehen als eine unmittelbare Handlung Gottes. Allerdings muß zugegeben werden, dass der Ausdruck ‏ביד שר האורים‎ viel zu unbestimmt ist, um mit Sicherheit daraus Schlüsse auf die Tätigkeit dieses Engels zu ziehen, da er vielleicht nur sagen will, daß dieser Fürst der Lichtwesen Moses und Aaron seine Hülfe angedeihen lies. Dann würde unsere Schrift nur eine in der Bibel wie in der späteren Literatur vorherrschende Meinung von dem Beistand, den die Engel den Frommen gewähren, zum Ausdruck bringen.

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Konkreter und deutlicher als die Gestalt des »Fürsten der Lichtwesen« ist die seines Antipoden, des Satans. Je reiner und vollkommener die Gotteslehre wurde, desto schwerer konnte man sich die Existenz des Bösen erklären. Gott, die Urquelle des Guten und Gerechten, konnte nicht der direkte Urheber der Sünde sein, der Mensch aber ist nur wie »Ton in der Hand des Töpfers« und kann ohne Gottes Zutun überhaupt nichts bewirken. Wir finden daher schon in der Bibel — 1. Chr. XXI, 1 — die Gestalt des Satans, der den Menschen Zur Sünde verleitet. und in der aprokyphischen Literatur nimmt seine Bedeutung mehr und mehr zu, wenn auch im Einzelnen an den verschiedenen Stellen verschiedene Ansichten über ihn herrschen. In unserer Schrift erscheint Satan meistenteils unter dem auch sonst vorkommenden Namen Beliaal, und es dürfte sich daher empfehlen, zuerst die Beliaalstellen näher anzusehen. »Und während aller dieser Jahre wird Beliaal gesandt werden gegen Israel«. Obwohl nun das Ganze Sprüche XVII, 11 »und ein grausamer Engel wird gegen ihn — den Bösen — gesandt werden« ‏ומלאך אכזרי ישלח בו‎ nachgebildet ist, so soll an unserer Stelle wahrscheinlich gesagt sein, das Beliaal während dieser Jahre »frei und ungehindert«, משולח, sein böses Werk verrichten wird, und dieser Gedanke wird in den folgenden Zeilen — 4, 15 — näher ausgeführt. Beliaal fängt Israel mit seinen drei Netzen: Unzucht, unredlichem Besitz und Verunreinigung des Tempels; »die Erbauer der Wand«, durch ihre Irreführung des Volkes fördern Beliaals Unternehmen, so dass er nach Belieben, משולח,‎ Israel ins Verderben stürzen kann. Möglich auch, dass der Ausdruck ‏משולח‎ gewählt ist, um anzudeuten, daß Beliaal, im Gegensatz zu den anderen bösen Geistern, welche an dem Ort der Verdammniß festgehalten werden, so daß sie den Menschen keinen Schaden zufügen, frei und ungehindert sein Zerstörungswerk verrichten kann. Beliaal ist aber nicht allein der Verführer zur Sünde, sondern zugleich der Feind Israels, weswegen er die Erlösung Israels aus der ägyptischen Sklaverei zu verhindern suchte. Durch den Fürsten der Lichtwesen standen Moses und Aaron auf, während Beliaal durch seine Tücke Jochanah und dessen Bruder erstehen ließ; hier wird Beliaal dieselbe Rolle zugeteilt, die Mastema im Buche der Jubiläen spielt. »Und der Fürst Mastema erhob sich wider dich und wollte dich in die Hand des Pharao fallen lassen und half immer den Zauberern der Ägypter« heiszt es — XLVIII, ‎9 — in diesem Buche. Ja noch mehr, die Erlösung aus Aegypten war nur möglich — a. a. O. Vers 15 — dadurch, das der Fürst Mastema gebunden und eingesperrt hinter den Kindern Israels war, damit er sie nicht anklage. Auch in der rabbinischen Literatur findet sich die Behauptung, das Samael = Beliaal den Durchzug Israels durch das rote Meer zu verhindern suchte, indem er zu Gott sprach: »sie sind vorläufig noch Götzendiener und du willst das Meer für sie spalten?!« Gott aber, um Samaels Anklagen gegen Israel ein Ende zu machen, hetzte ihn gegen Job, so das er für eine kurze Zeit Israel in Ruhe lies, um Job anzuklagen. Inzwischen wurde Israel von der Hand der Aegypter gerettet.

(Fortsetzung folgt.)